VON INGA GOSTMANN UND LEA HILDERMEIER (BIELEFELD)
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themenschwerpunkts „Künstliche Intelligenz in der philosophischen Hochschullehre“.
Künstliche Intelligenz betrifft längst nicht mehr nur Informatik und Technik. Inzwischen ist sie in nahezu allen Studiengängen präsent; sei es in Prüfungsformaten, in der Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen oder in der grundlegenden Frage, wie wissenschaftliches Arbeiten in Gegenwart von KI gedacht werden kann. Besonders im geisteswissenschaftlichen Studium, in dem Schreiben eine zentrale Rolle einnimmt, stellt sich vermehrt die Frage, warum Studierende überhaupt noch Hausarbeiten verfassen sollen, wenn KI in Sekundenschnelle ganze Texte generieren kann. Um zu erörtern, wie in geisteswissenschaftlichen Studiengängen mit KI beim Schreiben umgegangen werden kann, muss also zunächst die Rolle des Schreibens und des Schreiben-Lernens in diesen Studiengängen verstanden werden.
Wir – zwei Student*innen aus geisteswissenschaftlichen und schreibintensiven Studiengängen – wollen reflektieren, welche Rolle wissenschaftliches Schreiben im Studium im KI-Zeitalter spielt, welche Herausforderungen Studierende erleben und warum es sich trotz KI lohnt, Hausarbeiten zu schreiben, aber auch kritisch über deren Form, Ziel und Wirkung nachzudenken.
Zwischen Frust und Bedeutung: Warum schreiben Studierende eigentlich noch Hausarbeiten?
Aus eigener Studienerfahrung und unzähligen Gesprächen mit Kommiliton*innen wissen wir: Viele Studierende empfinden das Schreiben von Haus- oder Abschlussarbeiten als herausfordernd und frustrierend. Es ist ein aufwändiger Prozess, oft einsam und mit Unsicherheit behaftet. Am Ende dieses intensiven Prozesses steht meist ein Text, der nur von einer oder zwei Lehrenden gelesen und bewertet wird. Der Text, in den so viel Mühe geflossen ist, verschwindet in einer (digitalen) Schublade – oft unkommentiert, ohne Wirkung nach außen. Das Gefühl, dass der Text über die Bewertung hinaus Bedeutung hat, bleibt aus. Diese Erfahrung kann entmutigen und den Eindruck erzeugen, dass wissenschaftliches Schreiben eine rein formale Pflichtübung sei, losgelöst von echtem Erkenntnisinteresse oder kommunikativem Wert.
Das kann zu Frust führen, besonders in geisteswissenschaftlichen Studiengängen, in denen das Schreiben im Zentrum steht; wo Prüfungsleistungen häufig in Form von Hausarbeiten erbracht werden, Texte gelesen und geschrieben werden müssen und die Schreibkompetenz ein wichtiges Lernziel ist. Diese Erfahrung verweist auf eine strukturelle Spannung in der Subjektposition von Studierenden: Obwohl die Arbeiten von Studierenden nach wissenschaftlichen Standards bewertet werden, werden sie nicht als wissenschaftliche Beiträge ernst genommen. Katharina Pietsch, Tyll Zybura und Jessica Koch benennen diese Widersprüchlichkeit im Rahmen des Projekts Unconditional Teaching sehr treffend: „Unser universitäres Ausbildungssystem leistet sich also die Diskrepanz, von Studierenden zu erwarten, dass sie sich verhalten wie Forschende, aber behandeln lassen wie Schüler*innen – das ist ein Widerspruch, der viele Schwierigkeiten beim Lehren von wissenschaftlichem Arbeiten erklärt“ (Pietsch et al., 2022). Hinzu kommt: Studierende investieren viel Zeit und Mühe in ihre Texte, welche in Hausarbeiten, die scheinbar nur dem Modulabschluss dienen, kaum sichtbar werden. Auch das kann entmutigen und den Eindruck verstärken, Schreiben sei lediglich eine formale Pflichtübung. Pietsch et al. betonen, dass „Studierende im Studium nur selten die Erfahrung [machen], dass ihre Ideen und die Ergebnisse ihrer Arbeit als Beiträge zur Diskursgemeinschaft ihrer Disziplin wahrgenommen und gewürdigt werden“ (Pietsch et al., 2022). Die fehlende Sichtbarkeit studentischer Texte kann dazu führen, dass wissenschaftliches Schreiben nicht als Prozess verstanden wird, der zu Erkenntnissen bei der Schreibenden selbst führen kann, sondern als bloße Reproduktion.
Zusätzlich entsteht Druck durch die Bewertung: Viele Studierende stehen vor der Entscheidung, ob sie über ein Thema schreiben sollen, das sie wirklich interessiert – wie etwa ein aktueller gesellschaftlicher Konflikt, eine theoretische Frage mit offenen Perspektiven oder ein Thema, das sie persönlich betrifft, bei dem es jedoch noch keine klaren Antworten gibt –, oder ob sie sich lieber für ein Thema entscheiden, das im Seminar bereits ausführlich besprochen wurde und bei dem sie sich sicher fühlen, die Anforderungen gut erfüllen und eine solide Note erzielen zu können. In dieser Situation fällt die Wahl häufig zugunsten eines vertrauten Themas aus, statt sich auf einen erkenntnisreichen Schreibprozess einzulassen. Bei so einem frustrierenden Schreibprozess, bei dem man selbst durch das Schreiben wenig bis nichts dazu lernt, scheint es auch schnell so, als wäre es eine gute Idee, reproduzierende Texte von KI schreiben zu lassen, statt selbst Zeit zu investieren. Wenn Studierende sich doch für spannende Fragestellungen entscheiden, bei denen sie sich noch nicht ganz sicher sind, wird die Entscheidung, Hausarbeiten selbst zu verfassen, zu einem bewussten Akt: Mich interessiert dieses Thema und ich möchte etwas dazu herausfinden und selbst etwas dazu schreiben. Solche Momente fordern dazu auf, sich bewusst mit dem eigenen Schreibprozess und möglichen digitalen Hilfsmitteln auseinanderzusetzen.
Schreiben als Erkenntnispraxis: Was geisteswissenschaftliches Arbeiten leisten kann
Wer sich intensiver mit dem akademischen Schreiben beschäftigt, merkt schnell: Klarheit im Ausdruck, argumentative Schärfe und stilistische Präzision entstehen nicht von selbst. Schreiben ist ein Prozess mit Wiederholungen, Fehlern und Umwegen. Entscheidend ist, dass wissenschaftliches Schreiben früh im Studium vermittelt wird und zwar nicht nur als Regelkanon, sondern als kreative und kritische Praxis.
Diese Art des Schreibens ist mehr als eine Technik; sie ist Ausdruck einer Haltung: des forschenden Habitus. Gemeint ist eine Praxis, in der Studierende kritisch reflektieren und ihre Perspektive in wissenschaftliche Diskursen einbringen. Wenn Schreiben als Erkenntnisprozess verstanden wird, wird es möglich, die eigene Stimme zu entwickeln und Verantwortung für den eigenen Text zu übernehmen. Diese Haltung ist nicht nur im Studium wichtig, sondern zukunftsrelevant. Thomas Hoffmeister, ehemaliger Konrektor für Lehre und Studium an der Universität Bremen, bringt das auf den Punkt, wenn er sagt, es gehe darum, Menschen die Entwicklung zu ermöglichen, mit vielfältigen Problemen umgehen zu können, die sich heute noch gar nicht stellen (Hoffmeister et al., 2020, S. 9). Dafür brauche es mehr als Fachwissen, nämlich die „Fähigkeiten zu synthetisieren, mit Wissensbeständen umzugehen, diese miteinander in Beziehung zu setzen, sie auch zu hinterfragen” (Hoffmeister et al., 2020, S.9). Genau das ist Ziel eines forschenden Habitus und forschenden Lernens und zugleich das Potenzial geisteswissenschaftlicher Bildung. Am Umgang mit KI zeigt sich das beispielhaft: Wer Technologien wie ChatGPT im Schreibprozess nutzt, muss Entscheidungen treffen, nicht nur technische, sondern auch ethische und erkenntnistheoretische, zum Beispiel für oder gegen Tools und deren Outputs.
Schreiben als politische Praxis und Beitrag zur Diskursgemeinschaft
Warum also schreiben Studierende heute noch Hausarbeiten? Unsere Antwort: Weil wissenschaftliches Schreiben eine Form der Teilhabe ist; Teilhabe an Erkenntnisprozessen, an Diskursen, an gesellschaftlicher Verantwortung. Wissenschaftliches Schreiben bedeutet nicht nur, Wissen zu reproduzieren. Wenn Studierende einen wissenschaftsorientierten Beitrag leisten dürfen, verändert sich auch das Verständnis von Bildung: Sie wird partizipativ, politisch und reflexiv. Hausarbeiten im KI-Zeitalter haben dann Relevanz, wenn sie nicht nur als Pflichtformate verstanden werden, sondern als Räume für kritisches Denken, Haltung und Teilhabe. Ein Beispiel für einen Lösungsansatz für diese Herausforderung formuliert David Lauer in Gestalt von Kolloquiumsseminaren.
Studierende geisteswissenschaftlicher Studiengänge sollen im Studium lernen neue Zusammenhänge kritisch zu beurteilen. Wir sind überzeugt: Diese Kompetenzen entstehen dort, wo exploratives Lernen möglich wird; wo Unsicherheiten zugelassen werden; wo Studierende sich mit eigenen Unsicherheiten – und denen ihrer Dozierenden – auseinandersetzen, gemeinsam nachdenken und nicht vorgefertigte Antworten reproduzieren. Das Schreiben und das Schreiben-Lernen werden also – unabhängig von zukünftigen Entwicklungen der KI – relevant für und in geisteswissenschaftlichen Studiengängen bleiben. Gleichzeitig erfordert die aktuelle Debatte einen reflektierten und zeitgemäßen Umgang mit KI-Tools. Welche Rolle kann KI in Schreibprozessen spielen und wie können Studierende lernen, KI angemessen, kritisch und reflektiert zu verwenden?
Mehr als Prompt-Kenntnis: Warum KI-Kompetenz kritisches Denken braucht
Die beschriebene Haltung lässt sich nicht allein durch gutes Schreiben ausbilden. Im KI-Zeitalter benötigen Studierende zusätzliche Kompetenzen, insbesondere dann, wenn KI-Tools Teil ihres akademischen Alltags werden. Hier setzen Konzepte wie AI Literacy und Data Literacy an.
Data und AI Literacy umfassen drei Dimensionen: Spezifisches Wissen, die Fähigkeit, dieses Wissen anzuwenden, und die Bereitschaft, dies auch zu tun, das heißt die entsprechende Wertehaltung (Schüller et al., 2021, S.4; Deleski, 2025; KI:edu.nrw 2025). Um sich reflektiert mit KI auseinandersetzen und eine bewusste Entscheidung treffen zu können, braucht es mehr als bloßes Anwendungswissen. Es reicht nicht, zu wissen, wie man einen Prompt formuliert oder welche Plattform die vermeintlich besten Ergebnisse liefert. Entscheidend ist, zu verstehen, was (generative) KI eigentlich kann und was nicht: Welche Annahmen, welche Daten, welche gesellschaftlichen Strukturen stecken in den Modellen? Wer sich bewusst entscheiden will, braucht nicht nur technisches Know-how, sondern auch ein Bewusstsein für ethische, politische und erkenntnistheoretische Dimensionen und muss kritisch geschult sein.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie können Studierende darin bestärkt werden, eine Haltung zu entwickeln, die selbstständiges Schreiben fördert und zugleich einen kritischen, verantwortungsvollen Umgang mit KI ermöglicht? Im kommenden zweiten Teil dieses Blogartikel werden wir konkrete Vorschläge aufzeigen, wie dies gelingen kann.
Literatur
Deleski, V. (2025, 04 Februar.). AI Literacy – KI-Kompetenzen stärken. Blog der Fraunhofer Academy. https://blog.academy.fraunhofer.de/blogbeitraege/ai-literacy/ Zuletzt aufgerufen am 17.07.2025.
Hoffmeister, T., Koch, H., & Tremp, P. (Hrsg.) (2020). Forschendes Lernen als Studiengangsprofil: Zum Lehrprofil einer Universität. Springer.
KI:edu.nrw (2025). AI Literacy im Hochschulkontext. https://ki-edu-nrw.ruhr-uni bochum.de/ueber-dasprojekt/phase-2/querschnittsthemen/ai-literacy/. Zuletzt aufgerufen am 17.07.2025.
Pietsch, K., Zybura, T., & Koch, J. (2022, 19.September). Wissenschaftliches Arbeiten lehren: unsere Top 10. Wissenschaftliches Arbeiten Lehren. http://www.wissenschaftliches arbeiten-lehren.de/top-10-teil-1/ Zuletzt aufgerufen am 20.08.2025.
Schüller, K., Koch, H., & Rampelt, F. (2021). Data Literacy Charta. Stifterverband. https://www.stifterverband.org/charta-data-literacy. Zuletzt aufgerufen am 17.07.2025.
Zu den Personen
Lea Hildermeier studiert Anglistik und Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld und arbeitet beim Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) für das Hochschulforum Digitalisierung (HFD) im Bereich Bildung, Digitalisierung und Projektmanagement. Sie engagiert sich seit vielen Jahren in hochschulpolitischen und gesellschaftlichen Projekten, unter anderem als DigitalChangeMaker des HFD und im Common Grounds Forum. Ihre Schwerpunkte liegen auf studentischer Partizipation, digitaler Transformation und mentaler Gesundheit.
Inga Gostmann studiert Gender Studies in Bielefeld und ist Mitglied der Arbeitsgruppe „KI in der Hochschulbildung“ des deutschen Wissenschaftsrats. Sie engagiert sich, neben dem Themenfeld KI in der Bildung, auch für Partizipation und mentale Gesundheit an Hochschulen. Inga setzt sich für diese Themen zum Beispiel als Mentorin der Digital Change Maker beim Hochschulforum Digitalisierung ein. Neben ihrem Studium arbeitet Inga in der Projektkoordination eines von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre geförderten Lehrprojekts, BiLinked, bei sich an der Uni mit.
Zusammen haben Lea und Inga u.a. folgende Publikationen veröffentlicht:
- Brock, T., Einig, B., Gostmann, I., Hildermeier, L., Özden, G., Schuhr, J., Steffens, R., & Basner, T. (2024).Student Mental Health im digitalen Hochschulstudium: Handlungsempfehlungen für die Lehr- und Hochschulgestaltung (Blickpunkt). Hochschulforum Digitalisierung.
- Gostmann, I., & Hildermeier, L. (2024). Studierende im Mittelpunkt: Individuelle Studiengestaltung und kollaborative Curriculumentwicklung. strategie digital: Magazin für Hochschulstrategien im digitalen Zeitalter, 5, 50–55. Hochschulforum Digitalisierung.
- Gostmann, I., & Hildermeier, L. (im Druck). Lern- statt Lehrveranstaltung: Gemeinsam studentische Partizipation verankern. In L. Gerber et al. (Hrsg.), Lernkulturen in der Digitalität gestalten: Potenziale, Konzepte und Praktiken. Beiträge der JFMH 2024 (Medien in der Wissenschaft). Waxmann.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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