Die performative Methode philosophischen Zeichnens

VON HEIDI SALAVERRÍA (HAMBURG)

Da das Kerngeschäft der Philosophie in Begriffsarbeit besteht, mag es zunächst widersprüchlich klingen, von philosophischem Zeichnen zu sprechen. Doch nicht nur haben einige Philosoph:innen (z.B. James und Wittgenstein) Zeichnungen verschiedener Art in ihre Argumentation eingebaut. Meine Erfahrung zeigt außerdem, dass meine hier vorgestellte Methode philosophisch immer ergiebig ist und überraschende Ergebnisse zutage fördert – ob mit philosophischen Anfänger:innen oder erfahrenen Philosoph:innen, ob in einem Seminar oder auf Symposien. Durch die verschiedenen Schritte der Produktion, Rezeption und des Vergleichs der entstandenen Zeichnungen wird überdies ein offenes gemeinsames Nachdenken angeregt, bei dem auch stillere Teilnehmer:innen gefragt sind und aktiv werden (vgl. hierzu auch den Blogbeitrag von Martin Lenz).

Studierende (oder Teilnehmer:innen eines anderen Formats) werden dabei eingeladen, einen philosophischen Begriff (bspw. Zweifel oder Gemeinsinn) in Kleingruppen zu visualisieren. Die Spielregeln lauten: Keine Mindmap, keine Wörter! Der in Frage stehende Begriff soll nicht äußerlich illustriert werden (etwa beim Begriff Liebe ein Herz). Auch geht es dabei nicht darum, „gut zeichnen“ zu können oder ein besonders „schönes“ Bild anzufertigen, sondern darum, eine Art Gedankenbild zu dem jeweiligen Begriff zu entwerfen: Stelle ich mir z.B. Zweifel anschwellend vor oder lähmend, kollidiert etwas, nagt es, oder schwingt eine Verheißung mit? Wie ließe sich das darstellen? Die Zeichnung kann abstrakt oder figurativ sein, ich hatte schon Kurvendiagramme, Icon-artige Ergebnisse, nonverbale Cartoons oder rätselhafte Strukturformationen.

Die Kleingruppen tauschen sich jeweils über ihre individuell unterschiedlichen Vorstellungen aus und extrahieren daraus einen provisorischen gemeinsamen Nenner. Dieser wird nun in eine Zeichnung übersetzt. Dabei kann eine Person für alle zeichnen oder Einzelne ergänzen nacheinander vorher abgesprochene Elemente. Es gab auch schon Kleingruppen, in denen alle gleichzeitig an dem Bild gearbeitet haben. Das halte ich jedoch für weniger fruchtbar, weil das Ergebnis dann meist gestisch-expressiv und weniger pointiert ist. (Seitdem habe ich als weitere Regel eingeführt, dass nicht alle gleichzeitig zeichnen.)

Meiner Erfahrung nach funktioniert der Prozess am besten mit Old-School-Material: mit Folien, Eddings in verschiedenen Farben und einem Overhead-Projektor (sofern man noch einen findet). Durch die Folien und Edding-Stifte ist die Zeichnung ein One-Take: Einmal gezeichnete Linien bleiben. Die fertige Zeichnung wird per Overhead an die Wand geworfen. Natürlich kann man auch auf Papier zeichnen lassen, die Bilder abfotografieren und dann per Beamer an die Wand werfen oder gleich digital zeichnen lassen. Weitere Vorteile der Folienzeichnungen sind, dass die Farben mehr leuchten als bei Papierzeichnungen und sie, mit Benjamin gesprochen, auratischer wirken, aber das kann man nostalgisch finden und ist Geschmackssache.

Auch empfiehlt es sich, die Zeit für die Entwicklung der Zeichnungen zu begrenzen (20 Minuten reichen völlig). Im nächsten Schritt deuten zunächst die Studierenden der anderen Gruppen, also die, die nicht an der Zeichnung beteiligt waren, die Zeichnung (das kündige ich vorher nicht an). Erst danach erläutern die Urheber:innen ihr eigenes – manchmal intern divergierendes – Verständnis der Zeichnung und ihres Entstehungsprozesses. Auf die gleiche Weise präsentieren dann nacheinander die anderen Gruppen ihre Zeichnungen zu demselben Begriff (die sie ebenfalls erst von den anderen deuten lassen). Das gemeinsame Abschlussgespräch kann dann überleiten in die Auseinandersetzung mit Texten.

2007 habe ich in der Lehre diese Methode entwickelt, um über ihre performative Ebene einen unbefangeneren Umgang mit philosophischen Begriffen zu eröffnen. Gerade zu Beginn des Studiums oder eines Seminars sind Studierende manchmal eingeschüchtert von der Philosophie, erst recht, wenn es sich um Studiengänge handelt (bspw. an Kunsthochschulen oder in anderen praktischer ausgerichteten künstlerischen Studiengängen; vgl. hierzu den Blogbeitrag von Markus Rautzenberg), in denen die Auseinandersetzung mit Philosophie nicht an erster Stelle steht. Und oft sind Begriffsverständnisse, gerade zu Beginn des Studiums oder eines spezifischen Seminars, vage und individuell sehr verschieden. Das philosophische Zeichnen hilft, sich abstrakten Begriffen zugleich anzunähern und sich von ihnen zu distanzieren: zu distanzieren, indem das nichtbegriffliche Zeichnen durch den Medienwechsel in die visuelle Form aktiv einen Abstand von zuvor gelesenen Texten ermöglicht; sich anzunähern, indem eine Nähe zum eigenen Verständnis dadurch erzeugt wird, dass die Teilnehmer:innen auf ihre eigenen Assoziationen und Affekte passiv zurückgeworfen werden. Ihr jeweiliges Verständnis wird dadurch nicht nur befragt, sondern verschiebt sich durch die Befragung auch performativ.

Der zeichnerisch-performative Zugang bietet den Studierenden auch die Möglichkeit, mit anderen auf dieser assoziativen Ebene in einen Austausch zu treten. Durch diesen Prozess gewinne ich als Lehrende außerdem einen Eindruck davon, wo die Studierenden gedanklich stehen und kann dann besser auf sie eingehen. Die Methode eignet sich also sehr gut für philosophische Anfänger:innen. Ich habe sie aber, wie erwähnt, auch schon auf Symposien und in künstlerischen Kontexten eingesetzt und sie funktioniert eigentlich immer – auch mit erfahrenen Philosoph:innen, Künstler:innen etc. Sie hilft dabei, Hemmschwellen zu überwinden, sie ermöglicht durch Visualisierungen einen eigenen Zugang zu philosophischen Fragen und eröffnet durc die assoziative Herangehensweise einen ersten Einstieg in die Begriffsarbeit.

Dadurch, dass dieser Prozess mit Kleingruppen-Arbeit einsetzt, kann das philosophische Zeichnen darüber hinaus dazu beitragen, dass sich die Teilnehmer:innen, gerade zu Beginn des Semesters, besser kennenlernen und dass auch stillere Studierende aktiv einbezogen werden. Nicht zuletzt üben sich die Studierenden darin, gemeinsam Gedanken zu entwickeln. Insbesondere diesen letzten Punkt halte ich für zentral: nicht erst zu sprechen, wenn ein Gedanke scheinbar fertig (und damit scheinbar weniger angreifbar) ist, sondern den Mut zu fördern, Prozesse des eigenen Nachdenkens offenzulegen und im Gespräch mit anderen zu vollziehen. Dieser Prozess kann insofern als performativ bezeichnet werden, als darin miteinander Vorstellungen und Gedanken auf unorthodoxe Weise erzeugt werden. Es geht daher auf dieser Ebene zunächst nicht darum, richtig zu verstehen, auf welche Weise etwa Descartes, Peirce oder Rorty den Begriff des Zweifels bestimmen, sondern, ausgehend von den jeweils eigenen Annahmen und Ahnungen, das Potenzial dieser Annahmen und Ahnungen zu mobilisieren und sich davon überraschen zu lassen, was daraus entsteht. Es wird also nicht abgebildet, was schon klar war, sondern eher dabei zugesehen, wie Unklares Gestalt gewinnt und was das bei den Beteiligten bewirkt.

Die Methode ist bei jeder Thematik und jedem Begriff anwendbar. Wenn man jedoch im Seminar sprachphilosophische oder ästhetische Fragen behandelt, eröffnen sich darüber hinaus noch weitere Anknüpfungspunkte für die Diskussion: Was passiert in der Übersetzung von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit, zu Bildlichkeit, zurück zur Mündlichkeit? Was wird auf welche Weise verschoben, verdichtet, verwandelt oder erzeugt? Was lerne ich während dieser Übung über Wahrnehmung, kreative Prozesse, Gestaltung, ästhetische Urteilsbildung? Oder, medientheoretisch gefragt: Wenn Intermedialität in mehrfacher Hinsicht über Bande spielt, welche Rolle spielen diese Banden?

Eine Besonderheit der Methode besteht also, anders gesagt, darin, dass dabei durch das Verweben von nichtbegrifflich-visuellen und begrifflichen Verständigungen quasi die Fransen des Bewusstseins (James), also Ahnungen von und Zweifel an philosophischen Vorstellungen greifbar und verhandelbar gemacht werden. Gleichzeitig stößt der Prozess auch an die jeweiligen Grenzen des Diskursiven und Visuellen und regt damit eine Auseinandersetzung mit der je eigenen Qualität des jeweiligen Mediums an.


Literatur

Heidi Salaverría, Sona Schierbaum: „Theoretische und philosophiedidaktische Überlegungen zur Performativität – Blick aus zwei Richtungen“, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 41 (2), 2019, Schwerpunkt: Performatives Philosophieren, hg. von Markus Tiedemann und Rainer Totzke, S. 13-22.


Zur Person

Prof. Dr. Heidi Salaverría ist Professorin für Kunsttheorie und künstlerische Praxis an der Fakultät Arts and Social Change der MSH Medical School Hamburg. Als Philosophin, Kunsttheoretikerin und psychologisch informierte Kulturschaffende arbeitet sie transdisziplinär. Sie forscht und publiziert u.a. zu einer Ästhetik des Zweifels und zu Fragen der Anerkennung. Sie ist Mitglied des internationalen Kunstprojekts Hypercultural Passengers und des Netzwerks Performance Philosophy.
https://www.arts-and-social-change.de/about-us/team/heidi-salaverria/
https://www.salaverria.de/de/


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