Seminarbegleitende Online-Diskussionen

VON CHRISTOPH SCHAMBERGER (DÜSSELDORF)

Wie lassen sich Studierende dazu motivieren, Seminartexte zu lesen? Referate motivieren meist nur die Vortragenden. Lektürefragen lassen sich oft auch durch Überfliegen oder künstliche Intelligenz beantworten. Seminarbegleitende Online-Diskussionen in einem Diskussionsforum verlangen und fördern hingegen ein philosophisches Lesen, das eine argumentativ begründete Stellungnahme und Kritik vorbereitet.

Natürlich wird das Rad damit nicht neu erfunden. Jede Seminarsitzung bietet Gelegenheit zu Stellungnahmen und Diskussionen. Aber nur ein Teil der Studierenden ergreift sie. Manche haben keine feste Meinung. Andere fühlen sich unwohl damit, ihre Überzeugungen vor aller Augen und Ohren zu vertreten. Wieder anderen springt die Debatte zu schnell von einem Thema zum anderen – sie bräuchten mehr Zeit zum Nachdenken. Mündliche Seminardiskussionen sind die Domäne der Meinungsstarken und Schlagfertigen. Online-Diskussionen sind inklusiver und binden fast alle Studierenden ein. Dabei soll das eine das andere nicht ersetzen, sondern ergänzen und befruchten.

Online-Diskussionen fördern auch die philosophische Schreibkompetenz. Schriftliche Werke schätzt die Philosophie am höchsten. Auch die meisten Prüfungsleistungen sind schriftlicher Natur. Paradoxerweise wird aber das Schreiben in den meisten Lehrveranstaltungen gar nicht zum Thema gemacht. Schriftliche Beiträge verfassen die Studierenden in der Regel erst nach Ende eines Seminars in der vorlesungsfreien Zeit. Nur selten werden besondere Kurse angeboten, in denen die Textproduktion im Vordergrund steht. Online-Diskussionen bieten hingegen die Chance, das Schreiben im Rahmen konventioneller Seminare zu üben.

Die technischen Voraussetzungen für Online-Diskussionen sind minimal. Fast jede internetbasierte Lernplattform wie Moodle oder ILIAS bietet heute ein Diskussionsforum, in dem die Teilnehmenden Beiträge hochladen und die Beiträge anderer kommentieren können. An manchen Universitäten sind solche Diskussionsforen automatisch installiert, andernfalls lassen sie sich schnell einrichten, in Moodle etwa durch Auswahl von „Aktivität oder Material anlegen“ und „Forum“.

Vorgaben

Wollen Studierende in einem meiner Seminare einen Nachweis über die aktive Teilnahme (Studienleistung) erlangen, müssen sie im Laufe des Semesters zwei Arten von Beiträgen leisten. Zum einen müssen sie mindestens drei Stellungnahmen zu verschiedenen Texten des Seminarplans hochladen, in denen sie jeweils in 200 bis 400 Wörtern ihre eigene Meinung zum Text artikulieren und argumentativ begründen. Sie können darin Kritik am Text äußern, Zusammenhänge zu anderen Texten herstellen oder beschreiben, was sie überrascht und zum Nachdenken angeregt hat. Zu veröffentlichen ist eine Stellungnahme vor der Seminarsitzung, in welcher der Text behandelt wird, und zwar so, dass die Beteiligten ausreichend Zeit haben, die Stellungnahmen vorab zu lesen. Es ist sinnvoll, hier eine genaue Deadline festzulegen, z. B. 24 Stunden vor Seminarbeginn. Ausdrücklich fordere ich die Studierenden dazu auf, jede Woche alle Stellungnahmen und Kommentare zu lesen.

Im Seminarplan formuliere ich zu jedem Text zwei oder drei Lektürefragen. Die Studierenden können in ihrer Stellungnahme eine oder mehrere Fragen beantworten, wenn ihnen sonst nichts einfällt. Aber nur wenige Studierende machen von dieser Option Gebrauch. Die meisten greifen eigene Themen und Probleme auf. Zur sprachlichen Form der Stellungnahmen gibt es nur wenige Vorgaben: Sie können auf Deutsch oder Englisch verfasst werden, und sie sollten sinnvoll durch Absätze strukturiert werden, die maximal 15 Zeilen lang sind. 

Zum anderen müssen die Studierenden während des Semesters mindestens fünf Kommentare zu Stellungnahmen anderer Studierender verfassen. Darin sollen sie ihre Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken und begründen; es ist auch möglich, sich auf vorangegangene Kommentare zu beziehen. Im Idealfall gehen zu jeder Stellungnahme ein bis zwei Kommentare ein. Natürlich lässt sich die Zahl der Kommentare nicht genau steuern. Manche Stellungnahmen provozieren längere Diskussionen mit zahlreichen Kommentaren, andere bleiben leider unkommentiert. Für Kommentare gibt es keine Vorgabe zum Umfang; in der Regel sind sie 100 bis 200 Wörter lang.

Für Kommentare mache ich auch nur eine weiche zeitliche Einschränkung: Die zu kommentierende Stellungnahme soll nicht älter als eine Woche sein. Kommentare können somit auch nach der zugehörigen Seminarsitzung verfasst werden. Tatsächlich verarbeiten die Studierenden darin oft auch Eindrücke aus der Seminardiskussion. Die zeitlichen Vorgaben lassen sich aber natürlich abwandeln. Man könnte beispielsweise verlangen, die Stellungnahmen drei Tage und die Kommentare einen Tag vor der Seminarsitzung hochzuladen. Die Studierenden würden sich dadurch noch gründlicher auf die Seminardiskussion vorbereiten, müssten allerdings die Texte mit größerem Vorlauf lesen und sich die Zeit gut einteilen.

Vorteile

Seminarbegleitende Online-Diskussionen haben mehrere Vorteile gegenüber anderen Lehrmethoden: Stellungnahmen und Kommentare zwingen dazu, eine eigene Position zu beziehen und zu begründen. Sie führen damit niedrigschwellig in das philosophische Schreiben ein. Zugleich legen sie den Grundstein zu größeren Arbeiten. Manche Stellungnahmen werden später zu Hausarbeiten weiterentwickelt. Das ist gewollt.

Theoretisch wäre es für Dozierende möglich, sich die Stellungnahmen per E-Mail zusenden zu lassen. Vor vielen Jahren habe ich das so gemacht. Das flutete aber mein Postfach, und in größeren Seminaren war es unmöglich, allen Studierenden eine Rückmeldung zu geben, was manche als frustrierend empfanden. Die Beiträge zur Online-Diskussion sind hingegen für alle Teilnehmenden des Seminars (und nur für sie) sichtbar, und die Studierenden geben sich gegenseitig Rückmeldung, indem sie sich in den Kommentaren zu den Beiträgen der anderen Studierenden äußern.

Die Online-Diskussion lässt alle Studierenden zu Wort kommen, auch solche, die sich in Seminaren nicht melden. Viele Studierende, die stumm am Seminar teilnehmen, erweisen sich in ihren schriftlichen Beiträgen als erstaunlich meinungs- und argumentierfreudig. Hier liegt ein großer Schatz, der viel zu selten gehoben wird, wenn mündliche Beiträge nur auf freiwilliger Basis geäußert werden. Zwar lassen sich auch zurückhaltende Studierende durch Gruppenarbeiten und andere Methoden zum Sprechen bringen, aber diese sind zeitaufwändig und unter einigen Philosophiestudierenden nicht besonders beliebt. Offenbar sind schriftliche Beiträge für viele ein natürlicherer und bequemerer Weg, die eigene Position zu artikulieren.

Die Teilnahme an der Online-Diskussion fördert aber auch die Bereitschaft, sich in Seminarsitzungen zu melden. Die Studierenden machen sich ja schon vor den Sitzungen Gedanken zum jeweiligen Thema und entwickeln dazu eine eigene Position. Dadurch beteiligen sich mehr Studierende an der Seminardiskussion als in Seminaren mit Referaten. Manchen ist es ein richtig großes Anliegen, über bestimmte Punkte der Online-Diskussion noch einmal im Seminar zu debattieren. Die schriftlichen und mündlichen Diskussionen verlaufen also nicht getrennt voneinander, sondern ergänzen und befruchten sich gegenseitig.

Schließlich profitiere ich als Dozent in der Vorbereitung der Seminarsitzungen. Die Online-Diskussionen machen mich auf Fragen und Diskussionspunkte aufmerksam, die mir selbst nicht in den Sinn gekommen wären. In jeder Sitzung lese ich an passenden Stellen Auszüge aus zwei oder drei Stellungnahmen mit besonders interessanten Überlegungen vor, wobei ich Beiträge von möglichst vielen verschiedenen Studierenden auswähle. Solche Zitate bieten wieder neue Impulse für die Seminardiskussion. Ansonsten beschränkt sich meine Rolle als Dozent darauf, die Online-Diskussion mitzuverfolgen. Nur äußerst selten ist es nötig, moderierend einzugreifen und die Teilnehmenden an die Vorgaben zu erinnern. Der Ton der Diskussion ist meiner Erfahrung nach immer sachlich und freundlich. Soweit ich mich erinnern kann, musste ich noch nie wegen beleidigender Kritik eingreifen.

Nachteile und mögliche Lösungen

Für Dozierende hat die Betreuung der Online-Diskussion einen Nachteil: Sie müssen etwas mehr Zeit investieren als für andere Teilnahmeleistungen wie Referate und Essays. Einmal pro Woche, meist kurz vor dem Seminar, lese ich alle Stellungnahmen und Kommentare der vergangenen Woche und notiere in einer Strichliste jede Stellungnahme und jeden Kommentar. Während der Zeitaufwand für das Führen der Strichliste zu vernachlässigen ist, brauche ich für durchschnittliche Seminare mit ca. 25 Teilnehmenden jede Woche etwa 30 bis 60 Minuten, um alle Beiträge zu lesen. Der Zeitaufwand variiert wöchentlich mit der Zahl der Beiträge, die zu Beginn und am Ende des Semesters höher ist und in der Mitte des Semesters zurückgeht. Sicherlich könnte man die Beiträge schneller sichten, aber ich persönlich finde es einfach spannend, die Positionen der Studierenden vor dem Seminar zu erfahren, und lasse mir dafür relativ viel Zeit.

Um die Zahl der Beiträge etwas gleichmäßiger über das das Semester zu verteilen, bildete ich in manchen Seminaren thematische Blöcke und machte die Vorgabe, die drei Stellungnahmen müssten zu verschiedenen Blöcken verfasst werden. Einen ähnlichen Effekt hat die Auflage, pro Monat sei eine Stellungnahme zu schreiben. Dadurch wird verhindert, dass eine Studentin schon in den ersten Wochen des Semesters die geforderten Stellungnahmen und Kommentare abliefert und dann vorzeitig aus dem Seminar aussteigt. Dieser Fall ist bisher aber nur sehr selten aufgetreten. Die meisten Studierenden, die ihre Beiträge zu Beginn des Semesters einreichen, bleiben bis zum Ende engagiert dabei und veröffentlichen oft sogar mehr als erforderlich. Daher überlasse ich es mittlerweile ganz den Studierenden, zu welchen Texten des Seminarplans sie Stellungnahmen schreiben.

Um zu verhindern, dass die Online-Diskussion irgendwann einschläft, lohnt es sich, für alle Teilnehmenden ein Abonnement einzurichten. Diese werden dann per E-Mail über neue Beiträge informiert, was die Diskussion durchgängig am Laufen hält. In Moodle lässt sich diese Funktion in den Einstellungen des Forums aktivieren, wobei ich unter „Abonnement“ die Option „Automatisch“ wähle; alle Teilnehmenden erhalten dann ein Abonnement, können es aber (so wie ich) abbestellen. Damit sich die Länge der Stellungnahmen im Rahmen von 200 bis 400 Wörtern bewegt, sollte die Lernplattform während des Schreibens die Wortzahl anzeigen. Dazu aktivieren Lehrende in Moodle unter den Einstellungen des Forums die Option „Wortzahl anzeigen“.


Zur Person

Christoph Schamberger ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er unterrichtet vor allem Logik, Argumentation und theoretische Philosophie, gelegentlich auch praktische Philosophie und Philosophiegeschichte.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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