VON ARIANE FILIUS (MÜNSTER)
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themenschwerpunkts „Künstliche Intelligenz in der philosophischen Hochschullehre“.
Ist die Hausarbeit ein Auslaufmodell? Wie verhindern wir „KI-Betrug“ (was immer das genau ist)? Wie könnten andere Prüfungsformen und -abläufe aussehen? Solche Fragen geistern vermutlich derzeit durch alle Philosophie-Institute. Es scheint unvermeidbar, dass wir darüber in Austausch treten und diskutieren, ob und wie die Prüfungspraxis verändert werden muss. Dieser Beitrag argumentiert nur wenig für konkrete Lösungen, sondern bündelt die Überlegungen unserer Arbeit in Münster und systematisiert mögliche Strategien – er macht also einen Vorschlag, um ins Gespräch zu kommen.
Am Philosophischen Seminar in Münster kam der Ball ins Rollen, weil wir die Eigenständigkeitserklärung überarbeiten wollten – zunächst ein Anliegen der Schreibwerkstatt, die sich damit an den Vorstand wendete. Schnell zeigte sich die Komplexität dieses Anliegens. Wir gründeten einen Arbeitskreis (in dem alle Statusgruppen vertreten waren), machten eine Umfrage unter unseren Student:innen, führten systematische Tests mit ChatGPT durch und luden zu Gesprächsrunden, Workshops sowie einer Studiengangskonferenz ein. Anderthalb Jahre später gibt es (noch) keine neue Eigenständigkeitserklärung, aber wir haben vieles gelernt und vielleicht ist allein durch die gemeinsame Reflektion bereits ein kleiner Wandel in unserer Prüfungskultur geschehen.
Eine wichtige, wenn auch nicht besonders überraschende Lektion besteht in der Erkenntnis, dass es sehr schwierig ist, zu formulieren, worin eine unzulässige Nutzung generativer KI beim Verfassen von Prüfungsleistungen besteht (falls es diese überhaupt gibt). Tatsächlich erweist sich allein die funktionale Beschreibung unterschiedlicher KI-Nutzungzwecke wie „Formulierungen verbessern“, „brainstormen“, „übersetzen lassen“ als kompliziert. Zudem gehen die Intuitionen darüber, wann ein Betrugsfall vorliegen könnte, weit auseinander – welche Positionen es dazu gibt, wäre ein Thema für einen eigenen Beitrag. Für die folgenden Überlegungen möchte ich keine Definition von „KI-Betrug“ einführen. Wenn ich den Ausdruck verwende, meine ich damit genau die Fälle, in denen sich Menschen darüber einig sind, dass es so etwas wie KI-Betrug gibt und dass dieses Phänomen bei der Neugestaltung von Prüfungskulturen berücksichtigt werden sollte.
Bevor ich gleich sechs Strategien vorstelle, möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen vorausschicken.
Wenn wir über Veränderungen in der Prüfungspraxis nachdenken, sollte zuerst klar sein, welche Ziele wir verfolgen. In unseren kollegialen Gesprächen in Münster haben sich zwei Ziele gezeigt:
1) Wir wollen die Prüfungspraxis verändern, um sicherzustellen, dass Student:innen (mindestens größtenteils) selbst erarbeitete Texte einreichen. Dass das erstrebenswert ist, kann unterschiedlich begründet werden, z.B.:
- weil wir nur so die Kompetenzen, die wir prüfen wollen, bewerten können;
- weil wir nur so faire Prüfungsbedingungen haben;
- weil wir keine aufwändige Benotungs- und Feedback-Arbeit in KI-generierte Texte investieren wollen.
2) Wir wollen Prüfungspraxis verändern, damit Prüfungsformen zu den gegenwärtigen Lehr-Lern-Prozessen passen und Prüfungen tatsächlich die für ein Studium entscheidenden Kompetenzen prüfen.
Diese Ziele schließen sich keineswegs aus, haben aber unterschiedliche Kernpunkte: Mit dem ersten Ziel steht fest, dass wir eine gewisse Kontrolle über den studentischen Schreibprozess haben wollen (unabhängig davon, ob oder in welchem Umfang eine KI-Nutzung zulässig ist). Mit dem zweiten Ziel steht die Frage im Fokus, ob – im Sinne des constructive alignment (Biggs; Tang 2011) – Lernziele, Lernaktivitäten und Prüfungsformen zusammenpassen. Studentische Schreibprozesse ergeben sich dann hoffentlich sinnvoll und regelkonform aus den gesetzten Lernzielen; Kontrolle über den Entstehungsprozess steht hier im Hintergrund. In vielen Fällen sind die Ziele kompatibel, aber manchmal wird man einem von beiden Priorität einräumen müssen, wenn man konkrete Maßnahmen erwägt.
Es ist schwierig, isoliert über Prüfungsformen nachzudenken, denn jede etablierte Form ist eingebunden in vorgeschriebene Verfahren, gelebte Praktiken und bestimmte Überzeugungen. Sogar wenn man nur über kleine Änderungen nachdenkt, sieht man sich schnell auf grundsätzliche Fragen zurückgeworfen, z.B.: Was prüfen wir eigentlich mit einer Haus- oder Abschlussarbeit? Worin besteht unser Bildungsauftrag? Welchen Stellenwert hat das Schreiben in unserem Fach? Viele Dozent:innen in der Philosophie haben das Gefühl, dass diese grundsätzliche Reflexion schon länger überfällig ist. Vielleicht war der Relaunch von ChatGPT nur ein Katalysator für einen sowieso notwendigen Prozess? Haus- und Abschlussarbeiten waren schon vor dem Herbst 2022 ein Thema, das bei Student:innen wie Dozent:innen mit Frust und Zweifeln besetzt war. Es erscheint mir deswegen sinnvoll, nicht nur das erste Ziel in den Blick zu nehmen.
Das Hochschulforum Digitalisierung hat in genau dieser Weise die neuen technischen Möglichkeiten der KI zum Anlass genommen, über Prüfungskultur nachzudenken, ohne den Fokus auf die KI einzuengen. Mit der Ausgangsfrage „Wie gestalten wir den Wandel in der Prüfungskultur?“ wurde in verschiedenen Workshops mit mehreren Statusgruppen eine Vision für eine neue Prüfungskultur erarbeitet. Dieses Dokument enthält u.a. den Wunsch nach weniger benoteten Prüfungen, mehr kollaborativen Prüfungsformaten, einer stärkeren Lernprozessorientierung sowie kooperativen Feedbackschleifen. Diese Aspekte werden uns im Folgenden teils wieder begegnen.
Die folgenden Strategien benennen, „welche Richtung man einschlagen kann“, wenn man über Veränderungen der Prüfungspraxis nachdenkt. Sie enthalten jeweils verschiedene Umsetzungsoptionen, die weder vollständig genannt noch diskutiert werden können – ich werde sie nur „anteasern“.
1. Hausarbeiten generell durch mündliche Prüfungen ersetzen. Dieser Reflex scheint sich in einigen Fächern durchzusetzen, hingegen verteidigen in der Philosophie – so hat es sich zumindest in Münster gezeigt – Dozent:innen wie Student:innen die Relevanz des Schreibens für das Philosophieren, das Lernen allgemein und die akademische Ausbildung. Ferner erscheint die Elimination aller Hausarbeiten didaktisch fragwürdig, solange die Abschlussprüfungen das Format langer Aufsätze haben. Da ich bisher niemanden aus der Philosophie getroffen habe, der diese erste Strategie verfolgen möchte, halten wir uns hier gedanklich nicht länger auf.
2. Dokumentation und Reflexion des Entstehungsprozesses. Eine andere Strategie besteht darin, dass Student:innen den Entstehungsprozess ihrer Texte sichtbarer machen, indem sie mit jeder schriftlichen Prüfung z.B. ein Reflexionsvideo oder ein Prozessportfolio abgeben. Für diese ergänzenden Leistungen müssen klare Vorgaben gelten, z.B. müssen einzelne Arbeitsschritte bei der Themenfindung, der Erarbeitung der Gliederung etc. dokumentiert und reflektiert werden. Wenn diese Aufgaben sinnvoll konzipiert sind, könnten sie fruchtbar für Student:innen sein. Insgesamt scheint die Strategie aber auf ein Dilemma hinauszulaufen: Entweder sind die Zusatzaufgaben nur Beiwerk, das mit jeder Arbeit eingereicht werden muss, aber von den Dozent:innen unbeachtet bleibt – dann werden Student:innen sie als lästige Fleißaufgaben sehen und wenig in die Umsetzung investieren. Oder die Zusatzaufgaben gehören mit zur Prüfung, wodurch der Bewertungs- und Feedbackaufwand seitens der Dozent:innen deutlich steigt. Beides ist problematisch. Hinzu kommt: Um einem KI-Betrug vorzubeugen, scheint diese Strategie nur mäßig erfolgversprechend.
3. Neue Textsorten als Prüfungsformen etablieren. Während sich Prüfungstexte derzeit am Fachaufsatz orientieren, damit also in einen zeit- und distanzlosen, sachorientierten Diskurs einsteigen, könnten alternative Textsorten angebunden sein z.B. an persönliche Erfahrungen oder an das Seminargeschehen. Vorstellbar wären u.a. a) wissenschaftliche Journale, b) ausformulierte Fachdiskussionen, die auf das Seminargespräch rekurrieren, c) Thesenpapiere, die sich aus dem Seminar ergeben, oder d) seminarbegleitende Portfolios. In solchen Prüfungsformen liegt m.E. ein Potential, um die beiden oben genannten Ziele zu erreichen. Gut konzipiert, könnten neue Textsorten eine moderat gute Betrugsprävention bieten sowie eine bessere Verzahnung im Sinne des constructive alignments erreichen. Student:innen könnten solche Prüfungsleistungen persönlich bedeutsam und lohnend finden, gerade im Gegensatz zur klassischen Hausarbeit, durch deren Formvorgaben sich viele Student:innen eher gegängelt als inspiriert fühlen. Allerdings könnte eine Vielzahl von Textsorten im Studium zu einer Überforderung der Student:innen führen, weil Anforderungen und Bewertungskriterien ständig wechseln. Alternative Textsorten bereiten ggf. auch nicht gut auf die Abschlussprüfung, geschweige denn auf übliche Textsorten in der akademischen Praxis, vor.
4. Schriftliche mit mündlichen Prüfungen kombinieren. Vorstellbar ist auch, dass Student:innen ihre schriftlichen Leistungen in einem Gespräch „verteidigen“ müssen. In unseren Gesprächskreisen fanden einige Student:innen diese Idee durchaus attraktiv: Die Möglichkeit, mit Prüfer:innen über eigene Texte zu sprechen, würde die studentischen Schreibprozesse aus ihrer kommunikativen Sackgasse befreien. Schriftliche Leistungen könnten dadurch aufgewertet werden. Die Nachteile dieser Strategie drängen sich aber auf: Die Prüfungslast würde erhöht, der organisatorische Aufwand ebenso. Zur Kompensation könnte man die Zahl der Prüfungen reduzieren, wodurch aber einzelne Noten mehr Gewicht erhielten – dies erschien unseren Student:innen ziemlich ungünstig. Eine weitere Herausforderung besteht in der Gewichtung der Teil-Noten, die sich aus einer Kombinationsprüfung ergeben.
Die flächendeckende Kombination aller schriftlicher Prüfungen mit mündlichen Prüfungen scheint mir weder gangbar noch sinnvoll. Interessant könnte dieser Ansatz aber für Abschlussarbeiten sein, für die er an einigen Instituten auch bereits praktiziert wird.
5. Schriftliche Prüfungen mit (mündlichen) Teilnahme- oder Studienleistungen kombinieren. Das Problem der Notengewichtung und des erhöhten Prüfungsaufwand, das Strategie 4 mit sich bringt, lässt sich vermeiden, wenn schriftliche Prüfungen mit (mündlichen) Studienleistungen kombiniert werden. „Studienleistungen“ (kein universeller Ausdruck, aber ein weit verbreitetes Element in Prüfungsordnungen) sind verpflichtende, unbenotete Leistungen für die aktive Seminarteilnahme. Diese fünfte Strategie versucht, Schreibprozesse mehr in die akademische Tätigkeit einzubinden, was sowohl der Betrugsprävention dienen kann als auch Lernchancen für Student:innen birgt. Ebenso wie bei Strategie 2 sollten die Leistungen aber keine reinen Fleißarbeiten sein und nicht zu Arbeitsmehrbelastung der Dozent:innen führen, deswegen sind Peer-Arbeitsformen aussichtsreich. Von den zahlreichen Umsetzungsoptionen möchte ich drei vorstellen: a) Peer-Feedback im Seminarkontext, b) Schreibgespräche/-kolloquien mit Writing Fellows, c) kollaborative Schreibprozesse.
a) Peer-Feedback im Seminarkontext lässt sich durch kleine Arbeitsanlässe herbeiführen (z.B. wenn die Seminarteilnehmer:innen im Seminar Thesen notieren und ihre Formulierungen besprechen) oder auch durch größere Methoden wie z.B. die Schreibkonferenz. Die Student:innen lesen gegenseitig Auszüge ihrer Hausarbeiten (im Tandem oder in Kleingruppen) und geben sich Feedback. Allerdings müsste diese Arbeit bestenfalls in der vorlesungsfreien Zeit stattfinden, da die meisten Student:innen nicht im laufenden Semester an ihren Texten arbeiten.
b) Writing Fellows sind schreibdidaktisch geschulte Tutor:innen, die die Schreibprozesse ihrer Kommiliton:innen unterstützen und Standards der guten wissenschaftlichen Praxis vermitteln. Das Institut könnte zentral Peer-Schreibberatungen oder Schreibkonferenzen organisieren, zu denen sich Student:innen verpflichtend mit jedem ihrer Prüfungstexte anmelden müssen. Writing Fellows können aber auch einzelne Dozent:innen in Seminaren unterstützen. (Siehe hierzu z.B. „Lehren und Lernen mit Writing Fellows“ hrsg. von Anja Voigt.)
c) Auch kollaborative Schreibprozesse können Lernprozesse und die Einhaltung wissenschaftlicher Standards befördern, u.a. durch die Reflexion von Normen, die ständige Gegenwart der Leserperspektive auf den Text und die gemeinsamen Aushandlungsprozesse. Da kollaborative Prüfungen derzeit wenig verbreitet sind und sicher auch Nachteile haben, müssen prüfungsrechtliche und organisatorische Faktoren gut bedacht werden. In der oben erwähnten Vision einer neuen Prüfungskultur sind sie jedenfalls explizit erwünscht. In seinem Beitrag „Recherchekollektive: Abkehr vom Ego-Shooter-Studium“ teilt Jan Slaby Erfahrungen und Ideen zu diesem Thema.
6. Seminar- und Prüfungsabläufe ändern. Üblicherweise besuchen Student:innen in der Vorlesungszeit die Seminare, schreiben anschließend in Einzelarbeit ihre Texte und erhalten darauf ein summatives, evaluatives Feedback. Ein Abweichen von diesen Routinen ist u.U. aufwändig, bietet aber Potential für die Entwicklung einer neuen Prüfungskultur. Auch hierzu einige von vielen möglichen Ideen: a) Formatives Feedback etablieren, b) Texte vor dem Seminar schreiben lassen, c) zweigliedrige oder zweisemestrige Veranstaltungen.
a) Feedbackprozesse, wie sie sich im Lehrbetrieb bislang meist vollziehen, sind für beide Seiten oft problembeladen. Häufig ist die Note, neben einigen Kommentaren im Text, das einzige Feedback, das Student:innen erhalten. Aber auch von ausführlichen Rückmeldungen profitieren viele – aus sehr unterschiedlichen Gründen – wenig. Umgekehrt investieren viele Dozent:innen große Mühe in Benotung und Feedback und bedauern das geringe studentische Interesse. Auch die Einladung zu mündlichen Besprechungen wird nur selten angenommen. Für diesen Missstand gibt es viele Gründe, die hier keinen Platz finden. Einer jedoch liegt offenkundig in den Abläufen: Summatives Feedback kommt (zumindest für den konkreten Text) zu spät und ist für Feedback-Nehmer:innen weniger wertvoll als formatives Feedback. Könnten wir Hausarbeiten nicht auch vor der finalen Abgabe besprechen, sodass die Student:innen das Feedback direkt umsetzen können? Damit Dozent:innen die Texte nicht zweimal komplett lesen müssen, könnten sie bei der Wiedervorlage nur die Umsetzung der Feedbackpunkte in den Blick nehmen.
b) Historisch waren Seminararbeiten Texte, die fortgeschrittene Student:innen für die Seminardiskussion verfassten – diese Idee findet sich meist noch in der Veranstaltungsform „Kolloquium“, jenseits dessen aber kaum. Vielleicht können wir den ursprünglichen Zweck akademischer Texte wiederbeleben, indem wir Lehrroutinen (teils) so verändern, dass Student:innen ihre Texte mit ins Seminar bringen? Dadurch bekommen studentische Texte tatsächlich eine kommunikative Funktion und Autor:innen müssen und dürfen sich für ihre Texte verantworten. In einem Lehrexperiment haben Stefanie Haacke und Oliver Schliemann diese Idee umgesetzt und davon berichtet.
c) Ein ähnliches Ziel verfolgt die Idee der zweigliedrigen Veranstaltung: Im ersten Teil (ggf. im ersten Semester) arbeiten sich Student:innen in den Diskurs ein, dann schreiben sie eigene Entwürfe, die dann im zweiten Teil (ggf. im nächsten Semester) im Seminar thematisiert werden. Einen Erfahrungsbericht zu einem solchen Format hat David Lauer in seinem LehrGut-Beitrag „Kolloquiumseminare“ verfasst.
Die hier skizzierten Strategien bieten hoffentlich einen nützlichen Einstieg in kollegiale Gespräche und vertiefende Überlegungen. Sie müssen natürlich gründlicher (schreib)didaktisch abgewogen und organisationsbezogen, passend zu den jeweiligen Standorten, weiterentwickelt werden.
Literatur
Biggs, John & Tang, Catherine (2011): Teaching for Quality Learning at University: What the Student Does (4. Aufl.): Maidenhead: Open University Press.
Zur Person
Ariane Filius ist freiberufliche Schreibdidakterin und feste wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar in Münster, wo sie die Schreibwerkstatt leitet.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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