VON JANNA ROHWEDDER (KIEL)
1. Das Gelingen der Hochschullehre hängt von vielen Faktoren ab, vor allem aber davon, dass das Seminar als etwas Individuelles begriffen wird. Jedes Seminar stellt eine neu zusammengewürfelte Gruppe dar und es ist wichtig, zu verstehen, dass diese jeweils unterschiedlich auf Methoden und Seminarführungen reagiert. Das ist nicht nur eine Typfrage, sondern beispielsweise auch eine Frage danach, inwiefern das Seminar die jeweiligen Fachinteressen abdeckt, welchen Anspruch die Studierenden an sich selbst stellen, wie weit fortgeschritten die Teilnehmer*innen und von welcher Form die zu erbringenden Prüfungsleistungen sind. Die Liste der Faktoren, die das Seminar beeinflussen, ist lang. Dabei wurde die Form der zugrundeliegenden Lektüre noch gar nicht in Betracht gezogen – genauso wenig die Frage danach, welcher Typ die Lehrperson ist oder welches Rollenverständnis sie mitbringt (siehe hierzu auch den Blogbeitrag von Almut Kristine von Wedelstaedt). Mit der Zeit kann sich um die Lehrperson ein stabiler oder wiederkehrender Kreis von Student*innen bilden, die sich von ihrer Handschrift angesprochen fühlen. Für viele Student*innen ist dies nicht nur richtig, sondern auch wichtig.
2. Die thematische Ausrichtung von Seminaren und/oder einzelne Dozent*innen können ein wichtiger Ankerpunkt für Student*innen werden, auf den auch noch Jahre später zurückgeblickt wird. In meinem Fall waren das phasenweise Veranstaltungen, die schon im Vorfeld als Close-Reading-Formate gekennzeichnet waren. Die Seminarsitzungen zeichneten sich dadurch aus, dass die zugrundeliegenden Texte oder Ganzschriften gemeinsam gelesen wurden – vor Ort, Satz für Satz, um sie im Anschluss zu besprechen. In diesem Text möchte ich begründen, warum die Praxis des Close-Readings in philosophischen Seminaren nicht nur hilfreich, sondern essentiell ist – sowohl für die Lehrenden als auch für die Student*innen. Dieser Text ist das Ergebnis meiner Erfahrungen, Beobachtungen und der Überzeugung, dass gutes wissenschaftliches Lesen das Herzstück der geisteswissenschaftlichen Lehre bildet. Ich möchte im Folgenden also erläutern, was mit Close-Reading gemeint ist, welche verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten es gibt und warum wir mehr davon in der philosophischen Hochschullehre brauchen. Im klassischen Close-Reading wird Woche für Woche ein entsprechender Text oder Textausschnitt von den Student*innen vorbereitet und im Seminar erneut (laut) gelesen, zusammengefasst und diskutiert. Dies kann textchronologisch erfolgen oder aber auch freier gestaltet – und zwar insofern, dass die Seminarteilnehmer*innen einzelne Textpassagen vorstellen, die ihnen besonders schwer fielen oder wenig einleuchteten. In den Seminarsitzungen können diese spezifischen Textteile dann systematisch und gemeinsam gelesen und erschlossen werden.
3. Heute studiere ich zwar nicht mehr Vollzeit, gehe aber noch immer als Teilnehmerin in so manches Philosophieseminar meiner Heimatuniversität. Ich arbeite als Vertretungslehrkraft in einer Grundschule und frage die Kinder immer offen und freundlich, wer die Hausaufgaben gemacht hat, vor allem wenn diese die Grundlage meiner Unterrichtsstunde bilden. Dieser Vorgang ist nicht das Erbe meiner Lehramts-Praktika, sondern eine abgeschaute Praxis aus meinem Philosophiestudium: In Erfahrung zu bringen oder zu wissen, wie viele Student*innen des Seminars den Text überhaupt gelesen haben, scheint mir aus heutiger Perspektive eine für die Seminarsitzungen fundamentale Frage zu sein, die viel zu selten gestellt wird. Ein Raum, in dem ehrlich auf diese Frage geantwortet werden kann, bietet die Möglichkeit einer Art Vorschau für die folgende Sitzung. Als Seminarleitung kann von dieser Situation ausgehend antizipiert werden, ob die Vorhaben für die Sitzung umsetzbar sind oder nicht vielleicht eine Alternative her muss. Und auch die Teilnehmer*innen können hieran im Vorfeld ablesen, wie viel Zeit der Sitzung in ‚gemeinsame Lesezeit‘ oder ‚freie Diskussionszeit‘ investiert werden kann und sollte.
Selbstredend sollen nicht alle Seminare in strikte Close-Reading-Formate transformiert werden. Ich glaube aber, dass vor allem Seminare, die sich an Studienanfänger*innen richten, von gemeinsamer Lesezeit profitieren. Für diese gemeinsame Lesezeit gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten – diese erstrecken sich von einem streng wöchentlich ausgerichteten Close-Reading-Seminar bis zum Close-Reading als einer situativ gewählten Methode. Ebenso können die zu lesenden Textabschnitte von der Lehrperson vorgegeben werden, sich systematisch-chronologisch am Text orientieren oder von den Teilnehmer*innen eingebracht werden. Vor allem für die letztere Gestaltung bietet es sich zusätzlich an, den Teilnehmer*innen 5-10 Minuten Zeit zu geben, um sich erneut in den Text einzufinden, bestimmte Textausschnitte zu rekapitulieren und ihre Fragen zu formulieren. Das Close-Reading-Format soll nicht etwa dazu dienen, den Lehrpersonen ein ihnen widerstrebendes Format überzustülpen, sondern die Vorzüge des gemeinsamen Lesens zu erkennen und so den Horizont der Methoden ohne viel Aufwand zu erweitern.
4. Das Lesen bildet eine der Grundsäulen des Philosophiestudiums – nicht umsonst lautet eines der wenigen verpflichtenden Eingangsmodule an der CAU Kiel „Einführung in das wissenschaftliche Lesen“. Meistens bleibt es aber im Seminarkontext bei dieser Einführung. Von da an wird mehr oder weniger, vom Lehrstil unberührt, vorausgesetzt, dass die Student*innen über diese Kompetenz, diesen ‚main skill‘ des Philosophiestudiums verfügen und ihn eigenverantwortlich „im stillen Kämmerlein“ weiter ausbauen. Während sich Student*innen technisch gesehen zu ihrer Schreibkompetenz im Rahmen ihrer Hausarbeiten ein Feedback einholen können (sollten), bleibt das, was so banal erscheint und gleichzeitig so voraussetzungsreich ist, nämlich das Lesen, oft auf der Strecke. Und das, obwohl das Implementieren von gemeinsamen Close-Reading-Slots genau das gewährleisten würde, was von der Seminarleitung ohnehin vorausgesetzt wird: Alle lesen den Text. Und das im besten Falle erneut und nicht etwa zum ersten Mal.
Keinesfalls will ich also dafür plädieren, dass in Close-Reading Sitzungen Teilnehmer*innen ihre Texte nicht mehr vorzubereiten brauchen. Der Anspruch, die Texte zuhause zu bearbeiten und sie mit Fragezeichen oder Ausrufezeichen zu versehen, soll auch für Close-Reading Formate ausdrücklich weiter bestehen. Nur dadurch wird der Vorteil dieses Formats in vollem Umfang ausgeschöpft. Die Lektüre gut vorbereitet und inhaltlich parat zu haben, bedeutet für die Teilnehmer*innen, Gadamers hermeneutischen Zirkel selbst zu praktizieren und zu erleben. Gleichzeitig sind auch unvorbereitete Teilnehmer*innen eine anzuerkennende Realität der Hochschullehre. Auch für diese Gruppe sehe ich einen Vorteil. Auch diejenigen, die es aus diversen Gründen nicht geschafft haben, ihrer Pflicht, Mistreiter*innen zu sein (die David Lauer in seinem Aufsatz Ein Seminar ist nur so gut wie seine Teilnehmer völlig zurecht benennt), nachzukommen, werden ein Stück weit mehr mitgenommen und können Zeug*innen der Denkprozesse anderer werden.
5. Oft habe ich beobachten können, dass dieses gemeinsame Lesen auch bedeutet, gemeinsam zu verstehen. Es können Missverständnisse erkannt und benannt werden. Daraus ergaben sich immer wieder überraschende Fragen, neue Perspektiven und fruchtbare Diskussionen. Diese gibt es in anderen Seminarformen auch – oft von hoher inhaltlicher Qualität. Nur ist meines Erachtens im Format des Close-Readings noch klarer nachzuzeichnen, wie ein Gedanke, eine Rückfrage, ein Redebeitrag jeder Art überhaupt entsteht. Und genau dies, dieses leibhaftige Dabeisein scheint mir besonders für die ersten Semester gewinnbringend und relevant. Wenn auf das gemeinsame Lesen ein gemeinsames Zusammenfassen des Gelesenen folgt, betreiben wir eine Art Scaffolding. Somit ließe sich die Methode des Close-Readings, als Scaffolding betrachtet, auch mit dem Blogbeitrag von Deborah Mühlebach zum Thema der ungleichen mündlichen Beteiligung verbinden. Ein häufig zu beobachtender Grund für fehlende oder geringe Beteiligung ist, dass sich Teilnehmer*innen nicht trauen oder Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Indem aber vor Ort gelesen wird und das Gelesene zusammengefasst oder wiedergegeben werden soll, haben alle Teilnehmer*innen etwas vor sich, an dem sie sich abarbeiten können. Es liegt eine Einladung vor, sich zu beteiligen und sich langsam, aber niedrigschwellig an das „Reden über Philosophie“ heranzutasten.
6. Insgesamt erfordert das Close-Reading oder die Einführung einer gemeinsamen Lesezeit wenig Festlegung, eröffnet aber viele Ausgestaltungsmöglichkeiten. Es bietet die Flexibilität, auf die real anwesende Student*innenschaft zu reagieren. Sofern ich als Seminarleitung merke oder aktiv erfrage, wie gut die Texte vorbereitet wurden, lässt sich mit dem Konzept des Close-Readings (oder einer anderen, verwandten Ausgestaltung) vermeiden, dass a) alle Anwesenden so tun, als hätten sie den Text gelesen und sich qualvoll durch die nächsten 90 Minuten beißen. Vielmehr können die Teilnehmer*innen stattdessen b) im besten Fall Zeug*in der hermeneutischen Praxis werden: Zeug*in dessen, wie sich ein Gedanke entwickelt hat – oder wie wir selbst neue Gedanken entwickeln. Live und für alle nachvollziehbar. Darüber hinaus kann c) mit diesem Rückgriff zum weiteren Ausbau der wissenschaftlichen Lesekompetenz beigetragen werden, wovon auch zukünftige Seminare profitieren. Student*innen lernen, dass wissenschaftliches Lesen eine Fähigkeit ist, die auch gelehrt oder gemeinsam eingeübt werden kann. Daran schließt sich d) die niedrigere Hemmschwelle an, sich zu beteiligen, die zu einer neuen und ermutigenden Dynamik im Seminarraum beizutragen vermag.
Close-Reading oder eine anders geartete gemeinsame Lesezeit ist kein Allheilmittel, kein Garant für gelungene Seminare. Denn ob Close-Reading als Methode passt oder sich im Sinne der eigenen Lehrvorstellungen sinnvoll umsetzen lässt, ist, wie die Hochschullehre selbst, von vielen Faktoren abhängig: vom Gegenstand, dem Text (nicht jeder ruft nach Satz-für-Satz-Lektüre), der Gruppengröße, der zu erbringenden Prüfungsform, dem Vorwissen, dem Diskussionsklima – und nicht zuletzt der Lehrperson selbst, von ihrer Bereitschaft, methodisch flexibel zu sein, zu werden oder zu bleiben, von der Bereitschaft, Neues zu probieren und Abstand von den eigenen eingeübten Lehrmustern zu nehmen. Nur mit diesem Maß an Flexibilität kann auch erreicht werden, was eingangs beschrieben wurde: das Seminar als solches wahrzunehmen, die Teilnehmer*innen abzuholen, mitzunehmen oder eben einzuladen.
Zur Person
Janna Rohwedder hat ihr Studium der Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel mit dem Master of Education abgeschlossen. Zu ihren Forschungsinteressen zählen vor allem die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners sowie die Feministische Philosophie.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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