Recherchekollektive: Abkehr vom Ego-Shooter-Studium

VON JAN SLABY (BERLIN)

Wissenschaft ist interaktiv und kollaborativ. Überall? Nein, eine kleine Enklave hält stur am Prinzip des akademischen Ego-Shootertums fest: die Philosophie. Selbst dort, wo längst vom „sozialen Geist“ oder „verteilter Kognition“ die Rede ist, wo soziale Epistemologie und Sozialontologie auf die Lehrpläne drängen, bleiben Arbeits- und Prüfungsformen eminent individuell ausgerichtet. Ginge es anders? Ja! Im Folgenden diskutiere ich Vorschläge zur kollaborativen Gestaltung der philosophischen Lehre, des philosophischen Arbeitens und des Prüfungswesens, frei nach der Devise: Selbst Philosoph*innen sind stärker, wenn sie es gemeinsam tun.

Weshalb bleibt die universitäre Pädagogik der Philosophie engen Vorstellungen individueller Befähigung und solitärer Denkleistungen verhaftet, die andernorts wanken? Und warum passt sich der Habitus der Studierenden diesen Üblichkeiten noch immer so bereitwillig an? Denn wer kennt sie nicht, die rollenden Augenpaare, sobald die Seminarleitung sich erdreistet – horribile dictu – „Gruppenarbeit“ anzukündigen? 

Dabei sind viele der besten Momente im Philosophiestudium sozialer Natur: die Seminardiskussion, die unterschiedliche Perspektiven, Kenntnisstände und Herkünfte der Teilnehmenden überschreitet und alle zu neuen Einsichten leitet, ohne dass Einigkeit erzwungen würde. Die Diskussion unter Kommiliton*innen nach dem anspruchsvollen Gastvortrag, der alle herausfordert und zum Weiterdenken anregt. Das Aha-Erlebnis, wenn ein eigener Text, Vortrag oder Wortbeitrag auf Resonanz in der Lerngruppe stößt und spannende Repliken einträgt, mit denen man, eben noch unsicher vor sich hin werkelnd, nicht gerechnet hatte. Vielleicht liegt gerade hier der Funke Motivation, das Quäntchen Bestätigung, das jemand braucht, um angesichts von Widrigkeiten mit der Philosophie weiterzumachen.

Auch möchten nur wenige auf die Gesprächszusammenhänge und Beziehungen verzichten, die ein gelungenes Seminar über den Lauf eines Semesters stiftet. Dennoch verabschieden sich mit Beginn der vorlesungsfreien Zeit die meisten Studierenden in einsame Tage vor dem Schreibtisch oder in der Bibliothek. Vom kollektiven Momentum des gemeinsamen Lernens ist beim solitären Ringen um die Hausarbeit nicht mehr viel übrig. Nicht selten führt das zu Frust, zu Einsamkeit, eine kleine Krise wächst sich aus zur Schreibblockade, nicht wenige Hausarbeitsprojekte werden aufgegeben, wovon die geringe Abgabequote, von der viele Dozierende ein Lied singen können, beständig zeugt. Geschieht dies mehrfach, liegt der Abbruch des Studiums nicht fern.

Geht es ein bisschen sozialer in der Philosophie? Lassen sich die Energien des gemeinsamen Philosophierens in Formen gießen, die auch in den Phasen des vereinzelten Arbeitens und beim Erbringen von Prüfungsleistungen Bestand haben? Können wir eine Umgebung schaffen, in der die sozialen Momente des Studiums stärker auf Dauer gestellt werden und als unterstützende Struktur im Studium wirken können?

Während der pandemiebedingten Online-Lehre in den Jahren 2020 und 2021 erwies sich in meinem Fall – ich lehre seit 2010 Philosophie an der Freien Universität Berlin – das Bilden von Arbeitsgruppen aus vier bis fünf Studierenden, die während des gesamten Semesters beisammenblieben, als effektiv. So ließ sich Gruppenarbeit während der oft ermüdenden Videositzungen dank voreingerichteter Meetings blitzschnell initiieren. Und oft reichte ein weiteres kurzes Treffen pro Woche aus, damit sich feste Teamgefüge herausbildeten, in denen Seminartexte vorbesprochen, unklare Punkte aus den Sitzungen aufgegriffen oder auch einfach nur etwas gemeinsame Zeit inmitten des belastenden Pandemiegeschehens verbracht werden konnte. Für einige erwies sich das Studieren in diesem Format als sozialer als vor der Zeit des Lockdowns; aus Arbeitsgruppen gingen Freundschaften hervor, mindestens aber blieb es bei informellen Netzwerken, die im Studienalltag wertvoll sind. Die ansonsten dem Zufall oder der Initiative Mutiger überlassene Stiftung von Begegnungen an einer Massenuni ließ sich also – jedenfalls ein Stück weit – von der Seminarleitung verordnen (nicht jede Gruppe funktionierte oder hatte Bestand, obviously).

Mich hat dieses Format angespornt, weiter mit Teamarbeit zu experimentieren. Statt Ad-hoc-Teams für eine Phase einer einzelnen Seminarsitzung zu bilden, was oft mit sozialem Stress einher geht und wenig ergiebig ist, favorisiere ich feste Arbeitsgruppen, die ein Semester lang (und gerne länger) Bestand haben: Recherchekollektive. Gerade im Master, wo mit befähigten, motivierten und eigenständig arbeitenden Studierenden zu rechnen ist, bietet sich dieses Format an. Anstatt dass jede Person alleine die weiterführende Literatur zu einem Thema recherchiert und dann entweder von der Fülle erschlagen wird oder allzu selektiv vorgehen muss, schafft es ein passabel organisiertes Recherchekollektiv, größere inhaltliche Felder zu erschließen, Material zu sammeln und dann in gemeinsamer Diskussion vorbereitend auszuwerten. Auch wenn die auf den so gesammelten Materialien basierenden Arbeiten anschließend im Alleingang verfasst werden, ist für alle die Materialbasis und damit mutmaßlich auch das Verständnis des Themenfeldes deutlich reicher. Die Arbeiten fallen forschungsnäher aus, nähern sich im Bestfall schon dem Niveau des Publizierbaren.

Das Anlegen einer gemeinsamen Literaturliste kann zudem Arbeitsschritte beim Erstellen von Literaturverzeichnissen einsparen. Auf cloudbasierten Arbeitsplattformen können Exzerpte, Notizen und Ideen gesammelt und dezentral kommentiert werden. Es ergeben sich viele informelle Vorteile: nicht unwahrscheinlich, dass die Mitglieder des Recherchekollektivs auch als Korrekturlesende oder Kommentator*innen von Hausarbeiten oder Abschlussarbeiten zur Verfügung stehen. Nicht nur das: Aufgrund des geteilten Recherche-Hintergrunds und womöglich eigener, ähnlicher Arbeiten ist es wahrscheinlicher, dass die nötige Kompetenz und auch Motivation zu präzisem Feedback besteht – ein Vorteil gegenüber Gefälligkeitslektüren durch Kommiliton*innen, die sich thematisch nicht auskennen. Von Anfang an ist die Arbeit an einem eigenen Forschungsthema in den Semesterferien keine einsame Angelegenheit mehr, sondern erfolgt aus einer Arbeitsgruppe heraus, die je nach Bedarf verschiedene Formen der sozialen Anbindung erlaubt.

Wie abwegig wäre es angesichts dessen, auch noch den letzten Schritt in dieser Kooperationsdynamik zu gehen und Seminararbeiten in Ko-Autor*innenschaft zu erlauben? Was spricht dagegen es zu ermöglichen, zumindest einige der in einer Prüfungsordnung verlangten Leistungen in Teams (von zwei, oder vielleicht auch drei) Studierenden erbringen zu können? Viele, die akademisch publizieren, wissen die Vorzüge gelingender Ko-Autor*innenschaft zu schätzen: Vier (oder sechs) Augen sehen mehr als zwei, ist eine Person „leergeschrieben“, übernimmt eine andere den Text und setzt mit frischer Energie an, inhaltliche Krisen können gemeinsam bewältigt, Blockaden im Keim erstickt werden. Schon das Konzipieren einer Themenstellung, einer These oder Leitfrage fällt oft im Diskurs mit Gleichgesinnten leichter, Brainstorming ist ergiebiger, Erfahrungen und Kenntnisse summieren sich.

Meine ersten informellen Versuche mit studentischen Schreibteams im Rahmen von nicht prüfungsrelevanten Leistungen bestärken mich in dem Eindruck, dass es sich um ein probates Mittel zur Beförderung und Sicherstellung von Studienleistungen handelt. Die Arbeiten sind inhaltlich dichter, in These und Kernaussage mutiger, die Materialbasis breiter, zudem sind die Texte in formal gutem Zustand (so umfasst Ko-Autor*innenschaft ja meist quasi ein erstes Lektorat). Nach initialer Beratung durch mich sind die Teams fortan autark, arbeiten selbständig. Und nicht zuletzt: Die Texte werden auch tatsächlich abgegeben in der vereinbarten Frist – beileibe keine Selbstverständlichkeit im hiesigen Seminarbetrieb. 

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Denken sollte die philosophierende Person schon auch noch selbst; Schreiben ist selbst dann, wenn es im Team erfolgt, in der Durchführung eine eminent individuelle Bemühung. Manche Themen, manche Intuitionen, manche Versuche im Denken erfordern geradezu die Einsamkeit des individuell-idiosynkratischen Geistes – ganz ohne das geht es nicht. Und dass Studienleistungen irgendwann auf ein individuelles Leistungskonto gebucht gehören, ist ebenso klar. Doch das bedeutet nicht, dass es nicht zahlreiche Möglichkeiten gibt, das philosophische Arbeiten in der Lehre stärker gruppenbasiert, interaktiver und kollaborativer zu gestalten. Und spricht ernsthaft etwas dagegen, das dann auch in Studien- und Prüfungsordnungen einzuschreiben, zumindest als Option?

Meine bisherigen Versuche in diese Richtung sind nur ein Anfang, und sicher in Vielem noch besser ausgestaltbar. Es wäre schön, wenn auch andere Dozierende, die sich auf das Experimentierfeld kollaborativer Formate in der Philosophie begeben, ihre Ideen und Erfahrungen hier teilen würden. Für philosophierende Ego-Shooter würde das über kurz oder lang nichts Gutes verheißen.


Zur Person

Jan Slaby ist Professor für Philosophie des Geistes und Philosophie der Emotionen an der Freien Universität Berlin. Zurzeit arbeitet er gemeinsam mit Jandra Böttger und Henrike Kohpeiß zu den gesellschaftlichen Affektdynamiken, die eine vertiefte Befassung mit der globalen Klima- und Umweltkrise verhindern – Dynamiken des Ungefühlten. Texte von Jan Slaby zu diesem und anderen Themen finden sich hier: https://janslaby.com/


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


Kommentare? Gern veröffentlichen wir selbst sehr kurze Repliken als eigene Beiträge. Mehr dazu unter Hinweise für Beitragende.