Philosophisches Diskutieren

VON PHILIPP HAUEIS (HANNOVER/BIELEFELD)

Neben dem Lesen und Verfassen philosophischer Texte ist das mündliche Diskutieren ein zentraler Bestandteil der akademischen Philosophie. In diesem Blogpost beschreibe ich, wie ich Studierenden basale Merkmale und Regeln für philosophisches Diskutieren vermittle. Obwohl sich viele Punkte auf andere Diskussionskontexte anwenden lassen (Kolloquium, Vortrag, Konferenz), geht es in erster Linie um die Diskussionskultur im Seminarraum.

Eine angemessene Lehre philosophischen Arbeitens sollte Studierenden vermitteln, welche Ziele philosophische Diskussionen haben und welche Merkmale gutes philosophisches Diskutieren aufweist, um diese Ziele zu erreichen. Dies ist umso wichtiger, da gerade Studienanfänger*innen oft falsche      und noch öfter gar keine Vorstellungen davon haben, wie man mündlich philosophiert. Hinzu kommt, dass sowohl Lehrende als auch Studierende Erfahrungen mit schlechten philosophischen Diskussionen machen, z.B. solchen, die unnötig antagonistisch, unproduktiv oder verwirrend sind. Ein explizites Wissen über Standards philosophischer Diskussion kann deshalb dabei helfen, schlechte Diskussionen zu vermeiden und gute zu fördern. Im Rest dieses Beitrags werde ich die Ziele und Merkmale guter philosophischer Diskussionen darstellen, wie ich sie selbst Philosophiestudierenden im ersten Semester zu vermitteln versuche. Diese sind eine Zusammenstellung von nützlichen Hinweisen und Standards, die andere Philosoph*innen formuliert haben, und erheben daher keinerlei Anspruch auf Originalität.

Ziele philosophischer Diskussion

Das erste Ziel mündlicher Diskussionen sollte es sein, ein besseres Verständnis eines Textes oder Vortrags zu erreichen. Durch den gemeinsamen mündlichen Austausch wollen die Teilnehmenden klären, welche Aussagen genau getroffen wurden, was ein bestimmter Begriff/eine bestimmte Formulierung bedeutet, wie eine These zu verstehen ist usw. 

Ein zweites Ziel mündlicher Diskussionen sollte sein, Feedback zu geben: Die Diskussionsteilnehmer*innen sollen versuchen, positive und/oder negative Aspekte eines Textes oder Vortrags zu nennen. Idealerweise sollten sie dann auch begründen, wieso sie zu dieser Bewertung gekommen sind (insbesondere bei Negativurteilen). 

Ein drittes Ziel philosophischer Diskussion sollte sein, konstruktive Kritik zu geben. Hier versuchen die Teilnehmenden beispielsweise, Schwachstellen in einer Argumentation zu identifizieren und Vorschläge zu machen, wie diese Schwachstellen behoben werden können.

Es gibt sicherlich weitere Ziele philosophischer Diskussion (z.B. Verbindungen zu anderen Debatten oder Werken herstellen). Auch können unterschiedliche Beiträge zu philosophischen Gesprächen zum gleichen Ziel beisteuern (siehe den Blogbeitrag von Olivia Bailey). Aber sowohl in Lehrveranstaltungen als auch in Diskussionen unter akademischen Philosoph*innen sind Verständnis, Feedback und konstruktive Kritik wesentliche Bestandteile guter Diskussionen.

„Philosophy isn’t fight club“

Bevor ich konkrete Regeln anspreche, versuche ich den Studierenden zu vermitteln, welche Diskussionskultur man in der akademischen Philosophie anstreben sollte. Auf seiner Webseite zu mündlichen Diskussionsregeln schreibt David Chalmers dazu treffend: „Philosophy isn’t fight club“. Das Zitat ist in zweierlei Hinsicht treffend. Es vermittelt zum einen, dass Menschen in guten Diskussionen miteinander arbeiten und nicht gegeneinander kämpfen, um die Ziele von Verständnis, Feedback und konstruktiver Kritik zu erreichen. 

Das Zitat weist zum anderen daraufhin, dass philosophische Diskussionen oft durch stereotypisch maskulin kodierte Werte geprägt sind. Zu oft (oder: immer noch) wird aggressives Auftreten als Qualitätsmerkmal bewertet oder Argumentation als ein Kampf beschrieben, dessen Ziel es ist, den „Gegner zu schlagen“. Im Gegensatz dazu zeichnet sich eine gute Diskussionskultur durch die Werte des offenen Zuhörens und der intellektuellen Großzügigkeit aus. Dazu sollten die Diskutierenden dem vielzitiertem Rat von Anne Galloway folgen: „Everyone here is smart. Distinguish yourself by being kind“.

Respektvoll diskutieren

Als nächstes gehe ich mit den Studierenden konkrete Diskussionsregeln durch, die Chalmers (siehe Link oben) in die Normen des Respekts, der Konstruktivität und der Inklusivität unterteilt. Respekt beinhaltet Forderungen wie höflich zu sein, nicht zu unterbrechen, bei Antworten anderer nicht mit den Augen zu rollen oder Grimassen zu schneiden oder Parallelgespräche anzufangen. Dies ist nicht philosophiespezifisch, sondern gehört allgemein zu einem angemessenen Verhalten in akademischen Diskussionen. Es ist trotzdem wichtig, gerade mit Studierenden darüber zu sprechen, damit auch diese Standards explizit erwähnt wurden und man sich im Zweifelsfall darauf beziehen kann. Philosophiespezifisch(er) sind die Forderungen, Kritik nicht als reine Ablehnung zu formulieren, die Einsichten von Vorredner*innen anzuerkennen und Thesen, Argumente oder Fragen auf einer sachlichen, nicht auf einer persönlichen Ebene zu kritisieren. 

Da alle drei Normen auch in philosophischen Fachdiskussionen verletzt werden, kann der Eindruck entstehen, dass dies zur „normalen“ Diskussionskultur der Philosophie gehört. Den Studierenden sollte aber das Gegenteil vermittelt werden: Eine andere extrem ablehnende, übermäßig skeptische und individualistische Haltung sind Merkmale einer respektlosen Diskussionskultur. Genauso wie im professionellen Philosophieren allgemein ist es auch Aufgabe von philosophischen Lehrenden, hier einen anderen Standard zu vermitteln. 

Konstruktiv diskutieren

Die Normen der Konstruktivität buchstabieren eine positive Alternative guter Diskussionen aus. Kritik sollte hilfreich sein. Die Diskutierenden sollten sich deshalb fragen, wie ihre Kritik das Projekt der Sprecherin oder der Autorin unterstützen und stärken kann. Wenn destruktive Kritik formuliert wird, sollte sie mit einer positiven Einsicht verbunden werden (z.B. dass aus dem Fehlschlagen eines Arguments eine interessante Konsequenz folgt, über die man weiter nachdenken sollte). Auch sollte man gut überlegen, bevor man den Wert eines Projekts allgemein in Frage stellt. Nur weil man meint, eine Schwachstelle bei Aristoteles, Nietzsche oder de Beauvoir entdeckt zu haben, heißt das ja nicht, dass deren philosophisches Projekt als Ganzes wertlos ist. Das gleiche gilt für die Projekte von Studierenden. Auch ist es durchaus in Ordnung, Grundannahmen in Frage zu stellen. Wenn solche Fragestellungen jedoch die Diskussion dominieren, wird ein konstruktiver Fortschritt im Verständnis einer Position oder einer Person kaum möglich sein. Außerdem sollten Einwände nicht wiederholt werden, bis die angesprochene Person  (im Seminar, Kolloquium oder auf einer Konferenz) klein bei gibt. 

Inklusiv diskutieren

Die Normen der Inklusivität tragen zu einer ausgeglichenen Diskussion bei. Wenn man nicht selbst vorträgt, sollte man nicht die Diskussion dominieren. Das ist im Seminarraum wichtig, wo es sehr redefreudige und eher stille Teilnehmende gibt (siehe den Blogpost von Deborah Mühlebach). Alle Teilnehmenden sollten sich in ihren Beiträgen kurz fassen und in der Regel auch nur eine Frage pro Meldung formulieren. Ich halte es durchaus für legitim, dass Dozierende hier proaktiv eingreifen, wenn Diskutand*innen zu Monologen ansetzen oder kein Ende finden. Außerdem sollten Dozierende      Studierende ermutigen, auch Fragen zu stellen, die ihnen trivial oder uninformiert vorkommen. Eine Seminardiskussion ist nur dann inklusiv, wenn Leute mit unterschiedlichen Lernniveaus sich daran beteiligen. Eine Diskussion wird auch inklusiver, wenn alle es vermeiden, unnötige anstößige Beispiele zu verwenden, um ihre Argumente zu illustrieren.

Höfliche Kritik formulieren

Den Abschluss meiner Einführung bilden die Schritte, wie sich Kritik höflich formulieren lässt, welche sich in Daniel Dennetts Intuition pumps and other tools for thinking finden lassen. Der erste Schritt ist, die Position der Person so klar, anschaulich und fair zu formulieren, dass die Person selbst sagt: „Danke, ich wünschte, ich hätte es so formuliert“. Im zweiten Schritt sollten alle Punkte der Übereinstimmung aufgelistet werden, insbesondere wenn diese nicht allgemein akzeptiert sind. Im dritten Schritt sollte erwähnt werden, was man von der zu kritisierenden Person gelernt hat. Dann, und nur dann hat man im vierten Schritt die Erlaubnis, seine Kritik oder Erwiderung zu formulieren.

Man könnte sicherlich über die einzelnen Normen philosophisch diskutieren, sich fragen, wie genau sie anzuwenden sind und wann Ausnahmen gemacht werden dürfen. Sicherlich ließe sich die Liste auch noch erweitern. Sie ist jedoch ein guter Anfang, um Studierenden die Merkmale guter Diskussionskultur zu vermitteln.

In meiner Erfahrung nehmen die Studierenden diese Hinweise zu Diskussionen dankbar auf, und sind auch teilweise schon mit einigen Regeln vertraut. Wünschenswert wäre jedoch, dies in verkürzter Form in jeder Lehrveranstaltung zu besprechen. Dadurch ließe sich sicherstellen, dass von Beginn an eine gute Diskussionskultur entsteht.


Handout

Gutes Philosophisches Diskutieren – wie geht das?


Zur Person

Philipp Haueis ist seit 2018 akademischer Rat a.Z. an der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld und 2024/25 Vertretungsprofessor am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover. Seine Interessen liegen in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie, der Philosophie der Kognitions- und Neurowissenschaften und Klimaforschung und Gesellschaft. Er ist assoziiertes Mitglied der SOCRATES Gruppe in Hannover und Mitglied des Interdisciplinary Studies of Science Instituts sowie der dezentralen Gleichstellungskommission in Bielefeld.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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