VON TIM HAUBENREIßER (JENA)
Das Verhältnis zwischen Philosophiestudium und dem Erlernen von Fremdsprachen steht seit einigen Jahren heftig in der Diskussion. Druckfaktoren wie der Kampf um den Erhalt von Studierendenzahlen oder der Mechanismus der Regelstudienzeit haben vielerorts bewirkt, dass Sprachvoraussetzungen zum Studium deutlich reduziert wurden. Fraglich ist gerade der Status von Kenntnissen in den alten Sprachen, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend mit einem multilateralen Imageverlust zu kämpfen haben.
Gehaltvoller als der Vorwurf der antiquierten Anwendungslosigkeit ist der Hinweis auf die Mehrbelastung, die Studierenden daraus erwächst, insbesondere Latein zusätzlich zum Studium lernen zu müssen. Die gestiegene biographische Heterogenität (z.B. Hochschulzugangsberechtigung ohne Abitur), aber auch politische Entscheidungen (z.B. Ausschluss der Kombination Latein/Philosophie für das Lehramtsstudium in Thüringen) führen insgesamt dazu, dass viele Philosophiestudierende Sprachkenntnisse während des Studiums nachholen müssen. Dies kann aber ein ganzes Studiensemester in Anspruch nehmen.
Die sukzessive Abschaffung von Sprachvoraussetzungen für die Philosophiestudiengänge scheint sich jedoch, wie die meisten Erfahrungsberichte spiegeln, nicht in einem Anstieg der Studierendenzahlen niedergeschlagen zu haben. Vielmehr würde man eine Abnahme der sprachlichen Fähigkeiten bei den Studierenden und somit einen Qualitätsverlust in der Ausbildung feststellen. Zudem gewinnt man in der Studienberatung zwar den Eindruck, dass das Vorhandensein bestimmter Sprachvoraussetzungen für einzelne Studierende einen Faktor bei der Wahl des Studienortes darstellt. Gerade für die Aufnahme eines Masterstudiums spielen aber Punkte wie die Attraktivität der Städte die ausschlaggebende Rolle.
An der FSU Jena ist ein anderer Weg eingeschlagen worden: In diesem Reformprozess wurden alle Forderungen zu verpflichtenden Sprachkenntnissen aus den Studienordnungen entfernt. Zugleich wurde aber ein altsprachliches Kursangebot (ein Grund- und ein Aufbaukurs zu je 4 SWS) mit philosophisch-inhaltlicher Ausrichtung geschaffen und modular in die Studiengänge Bachelor Kernfach und Lehramt Gymnasium integriert, das sich an Studierende ohne entsprechendes Vorwissen richtet. Die Studierenden werden nun curricular auf diese Kurse hingeleitet, die einen eigenen Bestandteil ihrer philosophischen Ausbildung darstellen und deshalb nicht länger systematisch mit einer auf Regelstudienzeit ausgerichteten Studienstruktur interferieren.
Dieser Vorgang, der sich mit einer Profilbildung des Jenaer Philosophieinstituts in historisch-textanalytischer Dimension trifft, kann mit Recht als novum bezeichnet werden. Gleichzeitig offenbart er die Notwendigkeit, den Umfang der philosophischen Ausbildung neu zu fassen. Die Frage, die sich hier stellt und auch bei der Ausgestaltung des Jenaer Kurskonzeptes leitend war, ist: Was ist Latein für die Philosophie? Dabei geht es nicht um den Wert der Sprache oder des Spracherwerbs an sich, auch ist dies keine einfache Nutzenfrage. Vielmehr soll erörtert werden, ob es etwas am Erlernen der Sprache Latein oder am Rezipieren lateinischer Texte gibt, das kein einfaches Propädeutikum, sondern ein spezifisch philosophisches Merkmal, Thema oder Verfahren ist und es deshalb verdient hätte, als Teil des Studiums hervorzutreten.
Die Bestimmung des Status eines sprachbezogenen Anteils im Philosophiestudium ist dabei als wissenschaftliches Desiderat zu behandeln. Eine solche Untersuchung muss einräumen, dass Philosophie eine mehrsprachige Disziplin, ein vielsprachiger, überzeitlicher Diskurs ist und dass ein bedeutender Teil philosophischer Grundtexte auf Latein verfasst ist. Die eigentliche Aufgabe liegt aber darin, zu verstehen, weshalb sich die Lektüre philosophischer Texte nicht im Gebrauch von Übersetzungen erschöpfen darf und das Übersetzen selbst nicht auf „Hilfswissenschaften“ wie die Philologien auslagerbar, sondern eine genuin philosophische Praxis ist.
Ein fruchtbarer Ansatz scheint zu sein, das Übersetzen philosophischer Texte nicht als interpretativ-exegetischen Schritt zu verstehen: Übersetzungen machen Texte demnach nur insofern verständlich, als sie deren Verständnis vorbereiten. Sie liefern eine Version des Textes, von der die spätere Exegese ausgeht. Der Fokus auf das Erstellen einer solchen „Arbeitsversion“ verdeutlicht, dass es sich beim Übersetzen um eine definierbare Technik handelt, die im besonderen Fall der Erfahrung mit der speziellen Natur der übersetzten Texte bedarf. Die Übersetzung soll denen, die sich in einem philosophischen Text zurechtfinden wollen, erste Orientierung bieten, und muss daher von philosophisch Vorgebildeten angefertigt werden.
Mit diesem Übersetzungsbegriff kann die Fähigkeit, beim Erstkontakt mit philosophischen Texten einen Ausgangspunkt für ihre zielführende Interpretation zu finden, als eine Qualifikation aufgefasst werden, die eine philosophische Bildung voraussetzt. So wird zunächst sogar die Auseinandersetzung mit nicht-fremdsprachigen Werken, die sowohl im Forschungs- als auch im Lehrkontext wichtig ist, als eine Form präexegetischen Übersetzens fassbar: Unschwer lassen sich etwa bei Kant oder Heidegger Sätze finden, die genauso enigmatisch sind wie die meisten lateinischen Sätze aus Texten der mittelalterlichen Scholastik oder frühen Neuzeit. Insofern sie alle Instanzen derselben philosophischen Fachsprache darstellen, können sie mit demselben hermeneutischen Verfahren behandelt werden.
Das Paradigma zum Erlernen der entsprechenden Technik liefert das Übersetzen fremdsprachiger, lateinischer Texte: Hier wird (1) unweigerlich die Erfahrung produziert, dass sich Texte sprachlich transformieren und informativ aufwerten lassen, ohne aber dadurch schon verständlicher zu werden. Auf diese Weise zeigt sich der besondere Charakter des Übersetzens als eines Vertraut-Machens mit dem Text. Hier wird (2) deutlich, dass es in der Regel schwierig und zeitaufwendig ist, eine konstruktive Grundeinschätzung eines Texts zu gewinnen. Dies fördert den Habitus, Texte hinreichend vorsichtig, geduldig und als etwas Rätselhaftes zu behandeln. Übersetzen aus dem Lateinischen vollzieht sich (3) schließlich niemals „offen“, sondern stets in Bezug auf ein bestimmtes Korpus, ein bestimmtes Vokabular bzw. terminologisches Instrumentarium und eine bestimmte grammatisch-sprachliche Struktur. So tritt zutage, dass sämtliche Textgruppen ihre je eigenen Regeln haben, ohne deren Beachtung sie nicht adäquat verstanden werden können. Bei der Integration eines sprachbezogenen Anteils ins philosophische Curriculum ist also vor allem auf die Ausprägung dieser Aspekte Wert zu legen.
Die erste Ausgestaltung des Jenaer Kurskonzepts konzentrierte sich auf eine Anpassung hinsichtlich des dritten Punktes. Dies lag insofern nahe, als der bisherige Usus, die Aufnahme des Studiums an den Erwerb des Latinums (oder davon abstammende Zertifikate) zu binden, für die philosophische Ausbildung klar verfehlt ist: Dieses befähigt zum Umgang mit Texten der römischen Literatur aus der Zeit von etwa 100 v. bis 100 n. Chr., etwa Cäsars De bello gallico oder Ovids Metamorphoses. Das für die westliche akademische Tradition der Philosophie relevante Korpus umfasst jedoch vor allem Fachtexte aus der Zeit von etwa 1050 bis 1800, z.B. sowohl Anselms Monologion als auch Kants De mundi sensibilis atque intelligibilis formā et principiis. Diese zeichnen sich gegenüber anderen nicht nur durch ihre philosophische Themenstellung, sondern auch durch ihre innerdisziplinären Termini und Sprachspiele aus. Man könnte sogar behaupten, dass in den philosophischen Texten eine kategorial neuartige Sprachform entsteht, die nicht mehr lateinisch, sondern lediglich „latinoid“ ist. Der erste Schritt bestand also darin, Kurse zu schaffen, die auf die Lektüre solcher Texte vorbereiten.
In den Jenaer Kursen wird Übersetzen dabei vornehmlich an den Texten des Thomas von Aquin geübt, die neben ihrer thematischen Breite viele Vorteile bieten: Im Vokabular favorisieren sie abstrakte Neutra und davon abgeleitete feminine Substantive (individuum individualitas), die den Studierenden häufig schon bekannt sind und bei denen sich Übersetzen auf das Einsetzen des entsprechenden Lehnwortes beschränkt. In der Grammatik machen unintuitive und uneindeutige Elemente des klassischen Lateins (z.B. ablativus absolutus) für Formulierungen Platz, die dem philosophischen Exaktheits- und Normierungsanspruch eher gerecht werden (z.B. secundum quod mit Indikativ statt si mit Konjunktiv) und der deutschen Syntax verwandt sind (z.B. Tendenz zu explikativen quod-Sätzen). Der repetitive argumentative Aufbau der thomasischen Quästionen sorgt schließlich für Wiederholung und fördert damit den Lernerfolg.
Eine Stärke des Kurskonzeptes ist das Methodisieren des Übersetzens: Im Grundkurs sind die Sätze so gewählt, dass ihnen anhand grammatischer Kriterien (Analyse von Wortformen und Satzstrukturen sowie deren Synthese gemäß klar bestimmter Bildungsregeln) genau eine Übersetzung zugeordnet werden kann. Einfache Sätze und Satzperioden sollen sich den Lernenden durch eine formale Herangehensweise erschließen. Im Aufbaukurs dagegen, wo die behandelten Originaltexte eine höhere Komplexitätsstufe erreichen, wird die Fähigkeit vermittelt, die Vielzahl möglicher grammatischer Übersetzungen durch die Anwendung semantisch-historischer Kriterien (die Reflexion des Kontextes und des Diskurszusammenhangs eines Satzes, etwa der zahlreichen aristotelischen Topoi bei Thomas) einzugrenzen. Die Studierenden erhalten damit einen Maßstab, mit dem sie ihre Übersetzung prüfen und die Bewertung ihrer Übersetzungsleistung nachvollziehen können.
Die Integration sprachbezogener Anteile ins philosophische Curriculum bleibt work in progress, im speziellen Fall erforderte sie Detailabstimmung in inhaltlicher, personeller, rechtlicher, technischer sowie hochschulpolitischer Hinsicht. Dennoch bietet ein solcher Vorgang, wie man sehen konnte, auch große Chancen. Nach einem Pilotprojekt in den Jahren 2019/2020 werden die Kurse in der aktuellen Form seit dem WiSe 2021 in Jena angeboten und von den Studierenden gut angenommen. Für die folgenden Jahre ist eine Weiterentwicklung des Kurskonzepts bezüglich anderer, philosophisch bedeutsamer alter Sprachen wie Altgriechisch oder klassisches Arabisch, aber auch moderner Fremdsprachen wie Französisch denkbar und wünschenswert.
Einen großen Erfolg stellt dabei in diesem Jahr die Genehmigung zweier Projekte zur Programmierung einer Webanwendung dar, mit der die Kurse zukünftig digital unterstützt werden: Sie soll Studierende beim Erlernen des grammatischen Übersetzens und Internalisieren der entsprechenden Methode anleiten und somit im Präsenzunterricht weitere Kapazitäten für eine inhaltliche Besprechung der Texte freimachen. Diese Entwicklung soll zu gegebener Zeit ebenfalls in einem Beitrag bei LehrGut vorgestellt werden.
Zur Person
Tim Haubenreißer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Antike und mittelalterliche Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er in den Bereichen hellenistische Philosophie und antike Wissenschaftstheorie promoviert. Seit über zehn Jahren unterrichtet er alte Sprachen in verschiedenen Formaten wie Nachhilfe, Volkshochschule und Universität. Neuerdings ist er Teil des vom Stifterverband und vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderten Programms Fellowships für Innovationen in der digitalen Hochschullehre.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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