Den richtigen Einfallswinkel finden. Philosophie an Kunst- und Designhochschulen

VON MARKUS RAUTZENBERG (ESSEN)

Philosophie außerhalb angestammter philosophischer Fachbereiche und im Umfeld von Kunst und Design zu vertreten, bringt seine besonderen Herausforderungen mit sich. Ich sage absichtlich „vertreten“ und nicht nur „unterrichten“; denn viele Erwartungen (und manchmal auch Vorurteile) begegnen einem nicht nur von Seiten der Studierenden – hier eigentlich noch am wenigsten –, sondern auch und gerade von den Kolleg*innen.

Das Spektrum der Erwartungen ist dabei denkbar groß. Oft ist man der oder die Einzige an einem Fachbereich, die Philosophie oder „Theorie“ unterrichtet. Und so gehen die Vorstellungen davon, was da in der Lehre eigentlich vor sich geht, weit auseinander. Eingedenk der Tatsache, dass die meisten Kolleg*innen an solchen Institutionen im Unterrichtsalltag sehr eng mit den Arbeiten der Studierenden befasst sind und daher stets an sehr konkreten gestalterischen Problemen arbeiten, gibt es sicher den einen oder die andere, die der Ansicht sind, Philosophieunterricht bestünde darin, in Ermangelung solch konkreter Bezugspunkte hinter dem Katheter zu stehen und anderthalb Stunden monologisch die Welt zu erklären.

Diese Sicht ist keinesfalls eine Perspektive, die nur von Nicht-Philosoph*innen vertreten wird. Immerhin war zum Beispiel Hans Blumenberg noch der Meinung, dass eine philosophische Diskussion mit Studierenden prinzipiell unmöglich sei, denn Philosophie könne man nur erlernen, wenn Menschen, die es noch nicht können, solchen zuhören, die es können. Es überrascht nicht, dass seine Unterrichtsform der Wahl die Vorlesung war.  Und die Wahl dieses Formats ist heute gar nicht so veraltet, wie man vielleicht glauben mag – allerdings aus Gründen, die mit denen Blumenbergs nichts zu tun haben.

Ich selbst hielt Vorlesungen zunächst eigentlich eher für mehr oder weniger anachronistische Relikte, bis ich gespiegelt bekam, dass sich die Studierenden Vorlesungen sogar wünschen. Das liegt zum einen natürlich an dem gesicherten Setting, in dessen Rahmen man aufnehmen kann, ohne sich selbst beteiligen zu müssen. Allerdings ist dieser Punkt nicht ausschlaggebend für den Wunsch. Vielmehr darf man den Wandel der Zeiten nicht unterschätzen: Der Bedarf an Orientierung in der Philosophie ist stark gewachsen, und zwar nicht so sehr, damit man das Studium schnell hinter sich bringen kann (das auch), sondern tatsächlich aus existentiellen Gründen.

Flankierend (aber auch ein wenig karikierend) dazu werden Philosoph*innen von einigen Kolleg*innen gern als zuständig empfunden für: Lebenshilfe und Sinngebung, die Fabrikation möglichst eindeutiger Begriffsdefinitionen für den Unterrichtsgebrauch, weltanschauliche Beratung, salomonische Ratschläge im Institutsrat, immer pointierte und inspirierende öffentliche Reden für alle möglichen akademischen und außerakademischen Anlässe, die argumentative Beruhigung erhitzter Gemüter in Berufungskommissionen und konzise Protokolle derselben, die dann dem schärfsten Auge der Justiziar*in standhalten usw. Und das ist nur die positive Seite der Erwartungen.

Die negativen Einstellungen reichen von der Ansicht, dass der unmittelbare Nutzen der Philosophie für Kunst und Design doch eher begrenzt sei und man besser Psycholog*innen, Soziolog*innen, Ethnolog*innen oder Ägyptolog*innen berufen hätte, bis zu jenem erstaunlich hartnäckigen Gefühl einiger Kolleg*innen, die befürchten, dass Philosoph*innen es darauf abgesehen hätten, das „Geheimnis“ oder den „Rätselcharakter“ der Kunst zu zerreden und damit zu entzaubern.

In Seminaren machen Philosoph*innen an Kunsthochschulen dann vor allem zu Anfang oft den Fehler, zu meinen, dass die Faszination für philosophische Texte aus diesen unmittelbar emergiere, so dass man die kühle Klarheit eines Kant‘schen Absatzes, das dunkle Glühen Schellings oder die Eruptionen eines Nietzsche-Aphorismus einfach nur zusammen lesend erfahren müsse, und die Sache laufe quasi von selbst. Derartig transformative Leseerlebnisse haben sich im Leben vieler derjenigen ereignet, die Philosophie professionell betreiben. Wahrscheinlich sind viele Kolleg*innen aus Philosophie und Theorie aber von Anfang an viel klüger gewesen als ich, um einfach von sich auf andere zu schließen. Ich hingegen war zumindest zu Beginn meiner Lehrtätigkeit voller falscher Bescheidenheit und im Ernst der Ansicht, dass ich als Lehrender der humble servant der Philosophiegeschichte sei und die Studierenden quasi nur zur Quelle führen müsse. Es ist den damaligen Teilnehmer*innen hoch anzurechnen, dass sie meinen Seminaren nicht nach zwei Sitzungen geschlossen ferngeblieben sind.

Den heute gern genutzten Rat, man müsse die Studierenden vor allem „da abholen, wo sie sind“, halte ich, zumindest in Philosophie und Geisteswissenschaften, jedoch für ebenso falsch, denn das unterschätzt deren intellektuelle Neugier und befördert eine passive Konsumhaltung. Diese könnte ein Effekt der heutigen Nutzung sozialer Medien sein, deren Formate auf größtmögliche Passivität bei kleinstnötiger Aufmerksamkeitsspanne ausgerichtet sind. Die meisten, die an einer Hochschule studieren, wissen und erwarten jedoch sehr wohl, dass das Denken keiner Klassenfahrt, sondern eher einer Interrail-Tour ähnelt, zu der man erstens selbst aufbrechen muss und von der man zweitens nicht weiß, wo sie einen letztlich hinführen und was man unterwegs erleben wird.

Didaktisch gesehen geht es deshalb bei der Beschäftigung mit philosophischen Themen und Texten an – wie man so schön sagt – „anwendungsorientierten“ Akademien, Kunstuniversitäten und Gestaltungsfachbereichen auch nicht so sehr um vermeintliche Schwierigkeitsgrade, sondern oft um den passenden Einfallswinkel. Um ein Beispiel zu nennen: In einem Bachelor-Seminar im zweiten Semester hielt ich es im Hinblick auf die ästhetische Auseinandersetzung für gewinnbringend, einmal die „Logik des Sinns“ von Gilles Deleuze lesen zu lassen, um in Formen des paradoxen Denkens einzuführen. Während ich die Idee grundsätzlich nach wie vor für sinnvoll halte, war die Wahl des Textes denkbar ungünstig, wenn man es mit Studierenden zu tun hat, die mitunter noch nie einen philosophischen Text gelesen haben.

Der „Trick“, den ich dann anwandte, war mir von Deleuze selbst vorgegeben: Ich ließ Deleuze Deleuze sein und wir nahmen uns die beiden „Alice“-Bücher von Lewis Carroll vor, auf denen Deleuze seinen Text aufbaut. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Aus Fragezeichen in den Augen der Seminarteilnehmer*innen wurde Ausrufezeichen, als wir dann zu Deleuze zurückkehrten. Ich wurde schlagartig daran erinnert, dass die Komplexität in den Sachverhalten liegt und nicht zu diesen von der „Theorie“ hinzuaddiert wird. Daran hätte ich mich auch früher erinnern können. Dieses „Hinzuaddieren“ ist nämlich, so könnte man sagen, vielmehr ein Zeichen von schlechter Theorie und Philosophie: Philosophie als Jargon, Habitus und Pose.Da insbesondere Design-Fachbereiche von Studierenden besucht werden, deren Hintergrund oft nicht dem klassisch bildungsbürgerlichen Milieu entspricht, aus dem sich die Geisteswissenschaften inklusive der Philosophie in Deutschland nach wie vor vornehmlich rekrutieren, besteht hier eine besondere Sensibilität für die habituelle und auch diskriminierende Macht akademischer Sprachspiele. Das kann für viele Lehrende (einschließlich meiner Person) ein ziemlicher reality check sein, und das ist auch gut so. Philosophie an Kunsthochschulen funktioniert daher vor allem dann am besten, wenn für die Studierenden die in ihrer eigenen künstlerischen Arbeit aufgehende Komplexität in der Begegnung mit Philosophie zur Sprache kommt.


Zur Person

Markus Rautzenberg ist Professor für Philosophie an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Zu seinen Schwerpunkten zählen: Medienphilosophie, philosophische Ästhetik, Bildtheorie. Zurzeit: Philosophie der Künstlichen Intelligenz, Phänomenologie der Fotografie. Letzte Monografie: Bild und Spiel. Medien der Ungewissheit, Paderborn 2020.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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