Kolloquiumsseminare – Holt die Hausarbeiten aus den Schubladen!

VON DAVID LAUER (KIEL)

Oft bin ich unzufrieden mit der Qualität der in meinen Seminaren geschriebenen studentischen Hausarbeiten. Und offenbar bin ich damit nicht allein – jedenfalls nach dem zu urteilen, was ich Kolleg_innen in der Mittagspause so sagen höre. Ein Teil des Problems scheint mir motivationaler Natur zu sein: Studierende sehen wenig Sinn darin, Herzblut auf einen Text zu verwenden, der in aller Regel für die Schublade geschrieben und außer von der Lehrkraft von niemandem zur Kenntnis genommen wird.

Isolation und Einzelkämpfer_innentum sind ohnehin schon ein nicht zu unterschätzendes Problem in einem Fach, in dem es in der Regel keine festen Studienkohorten und nur wenige Pflichtveranstaltungen gibt. Gerade an großen Instituten ist es unter diesen Umständen nicht leicht, stabile Gesprächszusammenhänge mit Kommiliton_innen über einzelne Seminare hinaus aufzubauen. Die Hausarbeit, die monologisch im stillen Kämmerlein geschrieben und dann durch anonymen Einwurf in irgendeinen Briefkasten gegen eine im Studierendenaccount erscheinende Note eingetauscht wird, verstärkt diese isolationistische Tendenz.

Immer wieder hört man auch, dass es selbst vonseiten der Lehrperson zu einer ernsthaften inhaltlichen Rückmeldung oder Auseinandersetzung über das Geschriebene gar nicht kommt. Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht verwunderlich, wenn Studierende ihre Texte als reine Pflichtübungen betrachten. Man muss halt irgendetwas schreiben, also schreibt man – buchstäblich – irgendetwas. Da es ohnehin niemand liest, ist es ja egal. Nicht einmal man selbst muss sich mit dem eigenen Text je wieder auseinandersetzen. Verblüfft stelle ich immer wieder fest, dass Studierende, deren Hausarbeiten ich besprechen möchte, selbst gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich geschrieben haben, und dem eigenen Text mit einem desinteressierten Achselzucken begegnen, als hätten sie ihn auf der Straße aufgelesen. In den Augen dieser Studierenden hat die Hausarbeit mit ihnen selbst als Person offenbar nicht das Geringste zu tun.

Dass sich diese Haltung nicht positiv auf die Qualität von Hausarbeiten auswirken kann, scheint mir evident. Ebenso evident scheint mir, dass wir dieses Problem als Lehrende zum Teil selbst produzieren. Denn wir erklären unseren Studierenden ja, dass es beim Verfassen einer philosophischen Hausarbeit nicht in erster Linie darum geht, Wissen zu reproduzieren, sondern darum, sich in kritischer Auseinandersetzung mit Texten und Argumenten eine eigene philosophische Überzeugung zu erarbeiten und diese begründet und reflektiert zu vertreten. Eine philosophische Hausarbeit zu schreiben bedeutet, einen Diskussionsbeitrag zur Fortführung des Fachgesprächs der Philosophie zu leisten. Dies kann aber als Arbeitsauftrag von den Studierenden kaum ernst genommen werden, wenn eine tatsächliche Diskussion ihrer Beiträge dann nie stattfindet. Wenn die Aufgabenstellung den Charakter eines uneigentlichen „als ob“ hat, dann wird die Bearbeitung der Aufgabe ebenfalls im Modus des „als ob“ erfolgen.

Was also tun? Hier ist eine Möglichkeit: Holen wir die Hausarbeiten aus den Schubladen! Die Aussicht, mit dem eigenen Namen als Autor_in vor realen Anderen für den eigenen Text einstehen und Verantwortung für dessen Richtigkeit übernehmen zu müssen, wird mehr Studierende dazu motivieren, so zu schreiben, dass sie auf das Geschriebene stolz sein können. Die Gewissheit, sich realen kritischen Einwänden der peers stellen zu müssen, kann ein Anreiz für sie sein, in die Überzeugungskraft der eigenen Argumente zu investieren. Dazu aber muss eine solche Diskussion auch realiter stattfinden. Und zwar möglichst nicht nur zwischen je einzelnen Studierenden und der Lehrkraft, sondern unter den Studierenden insgesamt.

Um dies zu ermöglichen, muss die vorherrschende Auffassung über den Ort des Schreibens von Hausarbeiten im Lehrgeschehen korrigiert werden. Diese sieht derzeit üblicherweise so aus, dass das Seminar als eine kollektive Veranstaltung betrachtet wird, die sich aber mit dem Ende der letzten Vorlesungswoche auflöst. Von nun an arbeiten die Studierenden individuell auf sich gestellt an ihren Hausarbeiten. Der gemeinsame Arbeitszusammenhang ist verloren und wird auch nicht mehr hergestellt. Mit anderen Worten: Wir betrachten das Schreiben der Hausarbeiten nicht als genuinen Bestandteil der gemeinsamen Seminararbeit.

Das war nicht immer so. Das Genre der akademischen Hausarbeit hat seine historischen Wurzeln in der humboldtschen Universitätsreform, die eng mit der Etablierung des Seminars als Lehr- und Lernform verknüpft ist. Ein Seminar war, von seiner Idee her, eine Veranstaltung, bei der ein Kreis von prinzipiell gleichberechtigten wissenschaftlich Arbeitenden sich gemeinsam der Diskussion eines selbstgewählten Problems widmete. Dabei waren alle Teilnehmenden aufgefordert, in Form schriftlicher „Seminararbeiten“ eigene Beiträge in die Diskussion des Seminars einzubringen. Das heißt: Die Hausarbeit war ursprünglich etwas, das nicht nach dem Seminar, sondern im Seminar zum Tragen kam.

An diese Idee können wir anknüpfen. Die neu-alte Variante der Arbeitsform „Seminar“, die sich daraus ergibt, nenne ich „Kolloquiumsseminar“, um den Aspekt des Miteinandersprechens zu betonen. Es handelt sich um eine einschneidende Veränderung der Seminararbeit, die aber den Vorteil hat, weitestgehend im Rahmen bestehender Prüfungsordnungen und etablierter administrativer Strukturen realisierbar zu sein. Technisch gesehen lassen sich zwei Varianten eines Kolloquiumsseminars unterscheiden:

  1. Das Kolloquiumsseminar findet als Blockseminar statt, bestehend aus zwei Teil-Blockveranstaltungen, von denen die erste (Block A) im ersten Drittel der Vorlesungszeit liegt und die zweite (Block B) unmittelbar vor dem Beginn des nachfolgenden Semesters, kurz vor oder kurz nach dem Ende der Frist zur Einreichung von Hausarbeiten.
  2. Das Kolloquiumsseminar findet als teilverblocktes Seminar statt, wobei im ersten Drittel der Vorlesungszeit wöchentliche Sitzungen stattfinden (Seminarphase A). Die restlichen Sitzungen werden, wie in (a), als Blockveranstaltung unmittelbar vor dem Beginn des nachfolgenden Semesters durchgeführt (Seminarphase B).

Das Prinzip ist bei beiden Varianten das gleiche: Im ersten Abschnitt (A) der Arbeit im Seminar werden wie gewöhnlich Grundlagentexte oder ein Grundlagentext erarbeitet. Danach sind die Studierenden aufgefordert, bis zum Ende der Vorlesungszeit ein individuelles Studien- bzw. Hausarbeitsprojekt zu entwickeln, das sie während der vorlesungsfreien Zeit ausarbeiten. Am Ende der vorlesungsfreien Zeit findet der zweite Abschnitt (B) des Seminars statt, zu dem alle Seminarteilnehmer_innen erneut zusammenkommen, um sich in Form einer studentischen Konferenz gegenseitig ihre Arbeitsergebnisse als papers vorzutragen und zu diskutieren. Auf diese Weise werden die Hausarbeiten der Studierenden selbst zum Gegenstand der Seminararbeit.

Was gilt es bei der Durchführung eines Kolloquiumsseminars zu beachten?

  • Die Teilnehmenden sollten fortgeschrittene Studierende sein, die schon mindestens eine Hausarbeit im gewöhnlichen Rahmen geschrieben haben. Ihre Zahl sollte nicht zu groß sein, damit einerseits der Betreuungsaufwand nicht aus dem Ruder läuft und andererseits alle Studierenden im Rahmen der studentischen Konferenz einen Präsentationsplatz erhalten können. 
  • Nicht alle Themen und Bücher eignen sich als Grundlage. Idealerweise bildet ein dichter, aber nicht zu langer Text die Grundlage, der sich einerseits in 4-6 Sitzungen einführen lässt, andererseits aber eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten auch in unterschiedliche thematische Richtungen zulässt. (Textgrundlagen meiner Kolloquiumsseminare waren im einen Fall Adornos Minima Moralia, im anderen Stanley Cavells „Skeptizismus und das Problem der anderen“, der vierte Teil von Der Anspruch der Vernunft.)
  • Die Vorstellung der eigenen Arbeit bei der studentischen Konferenz, die den Abschluss des Seminars bildet, muss verbindlich sein. Alle sitzen im selben Boot, alle tragen am Ende etwas vor. Es dürfen keine gewöhnlichen Hausarbeiten an der Konferenz vorbei geschrieben werden.
  • Auch andere Prüfungsformen wie z.B. Referate lassen sich so abwandeln, dass sie als Konferenzbeiträge präsentiert und diskutiert werden können (beispielsweise als Vorträge oder Statements bei einer Podiumsdiskussion).
  • Damit die Studierenden genügend Zeit zur Anfertigung ihrer Arbeiten haben, empfiehlt es sich, ein Kolloquiumsseminar im Sommersemester durchzuführen.
  • Es hat sich als hilfreich erwiesen, eine digitale Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, mittels derer die Studierenden während der mehrwöchigen individuellen Arbeitsphase zwischen den Seminarabschnitten A und B in Kontakt bleiben und sich austauschen können. Dazu eignen sich die Diskussionsforen in den üblichen Lernplattformen, ich habe aber auch schon die App Discord dafür verwendet, mit sehr guten Ergebnissen.
  • Die Studierenden sind darauf angewiesen, besonders gute und idealerweise kommentierte Literaturlisten zum Seminarthema zu erhalten, um zügig Themenideen für ihre Arbeiten entwickeln zu können.
  • Die studentischen Rückmeldungen ergaben, dass die Studierenden – mit der Aussicht, ihre Ergebnisse nicht nur aufschreiben, sondern auch präsentieren zu müssen – deutlich mehr Zeit in die Kolloquiumsseminare investiert hatten als in übliche Seminare. Dass von ihnen erwartet wird, diese Extrameile zu laufen, sollte ihnen zu Beginn offen kommuniziert werden – zusammen mit dem Versprechen, dass sie jede Hilfestellung erhalten werden, die sie brauchen. Als Belohnung kann ihnen eine außergewöhnliche akademische Erfahrung in Aussicht gestellt werden.
  • Während der Individualarbeitsphase zwischen den Seminarphasen A und B müssen die Studierenden betreut und unterstützt werden. Im Vergleich zu gewöhnlichen Seminaren erhöht dies für die Lehrperson tendenziell den anfallenden Besprechungsaufwand. Für jede Hausarbeit bzw. jeden studentischen Konferenzbeitrag sind zwei verpflichtende, ausführliche Einzelgespräche erforderlich: Erstens sollten alle noch während der Vorlesungszeit zu erstellenden Ideenskizzen für die studentischen Arbeitsprojekte individuell vorbesprochen werden, um bis zum Ende der Vorlesungszeit tragfähige Hausarbeitsprojekte zu generieren. Zweitens sollten zwei bis vier Wochen vor Seminarabschnitt B (studentische Konferenz) verbindlich Zwischenergebnisse vorgelegt und ebenfalls individuell besprochen werden, um im Zweifelsfall nachsteuernd eingreifen zu können.

Ich habe bisher zwei Kolloquiumsseminare an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel durchgeführt und würde das Ergebnis in beiden Fällen als gamechanger einstufen. Nicht nur war die Qualität der eingereichten Hausarbeiten deutlich höher als in gewöhnlichen Seminaren, auch der übliche Teilnehmendenschwund war signifikant verringert und lag nahezu bei Null. Die Veranstaltungen wurden auch von den Studierenden als großer Erfolg bewertet. Zwischen ihnen entstanden mehr persönliche Verbindungen, Gesprächs- und Arbeitszusammenhänge als üblich. Die Diskussionsatmosphäre war im Vergleich zu Standardseminaren deutlich verbessert: informierter, engagierter, zugewandter, offener. „Das also kann Uni sein!“ war ein in den Evaluationsrunden mehrfach so oder ähnlich artikulierter Kommentar.


Eine Replik von Christoph Schamberger zu diesem Beitrag ist am 16. September 2024 auf LehrGut.org erschienen.


Zur Person

David Lauer, promoviert und habilitiert an der Freien Universität Berlin, lehrt Philosophie als Privatdozent und unbefristeter wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Aufgabenschwerpunkt Lehre an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sein Arbeitsgebiet ist die Theoretische Philosophie mit den Themenschwerpunkten Sprache, Verstehen, Intentionalität, Selbstbewusstsein und Sozialität des Geistes. Regelmäßig schreibt er philosophische Beiträge für Zeitschriften und die Sendung „Sein und Streit“ auf Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitbegründer und Redaktionsmitglied bei LehrGut.org.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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