Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in klassischen Texten?

VON ANDREA MARLEN ESSER UND KAROLIN-SOPHIE STÜBER (JENA)

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themenschwerpunkts „Diversität in der philosophischen Lehre”.

In vielen klassischen Werken der philosophischen Tradition finden sich rassistische, sexistische oder antijüdische Passagen. Gerade in der schulischen und universitären Lehre ist es eine Herausforderung, sich mit diesem problematischen Erbe verantwortlich auseinanderzusetzen: Wie lassen sich solche Stellen differenziert analysieren, ohne in emotionalisierte apologetische oder verwerfende Extrempositionen zu geraten? Wie kann uns als heutige Leser:innen diese Diskussion über die Mechanismen solcher Ideologien und ihre Tradierung bis in die Gegenwart aufklären?

In unserem von der DFG geförderten Koselleck-Forschungsprojekt „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus?“ versuchen wir auf verschiedene Weisen für dieses Thema zu sensibilisieren. Drei Aspekte dieser Arbeit stellen wir im Folgenden kurz vor:

  1. Wir entwickeln Argumentationshilfen und -anregungen, um das Thema als ein philosophisches wie politisches auszuweisen.
  2. Wir arbeiten an einer Datenbank, in der problematische Stellen aus Klassikern historisch und systematisch kontextualisiert sowie kritisch kommentiert werden. 
  3. Wir stellen „Good Practice Guides“ und eine umfassende Materialsammlung für die Lehre bereit. 

Damit hoffen wir einen produktiven Beitrag zum Diskurs zu leisten und auch diejenigen zu unterstützen, die nur wenig Zeit haben, sich in das Themenfeld einzuarbeiten.

I. Argumentationshilfen und -anregungen

In verschiedenen Veröffentlichungen thematisieren wir gängige Topoi und Positionen des aktuellen Diskurses, die möglicherweise eine kritische Auseinandersetzung eher blockieren als fördern. So etwa die Meinung, es handle sich bloß um Prägungen durch einen historischen Zeitgeist oder um gesellschaftlich bedingte Verfehlungen einzelner Individuen – und deshalb gar nicht um eine originär philosophische Fragestellung. 

Tatsächlich gehört die Vorurteilsanalyse und -kritik seit Beginn der Philosophie zu ihrem Kerngeschäft und die Frage nach den Faktoren, die wahre und richtige Erkenntnis verhindern oder verzerren, spielt in nahezu allen philosophischen Theorien eine Rolle. 

Das Problem einer unterlassenen Vorurteilskritik besteht darin, dass sie herabwürdigende Klischees und Pseudoargumente bei jeder Lektüre aktualisiert. Da mit den entsprechenden Autoren (mitunter auch Autor:innen) durch ihren Status als Klassiker eine gewisse Autorität verbunden wird, können diese Stellen auch heute wieder zur Legitimation von diskriminierenden Positionen und einer entsprechenden Politik herangezogen werden. Eine unreflektierte Rezeption trägt so zur Traditionsbildung solcher Klischees und problematischer Argumente bei. 

Das lässt sich nicht zuletzt an einigen Autoren der sogenannten Neuen Rechten verdeutlichen, die häufig auf Klassiker zurückgreifen, um ihre antiliberale, diskriminierende und völkische Position zu stützen und dieser den Anstrich einer langen – als konservativ propagierten – Tradition zu geben. Man erkennt daran nicht nur, wie sich Traditionsbildung vollzieht, sondern auch, dass eben nicht nur aufklärerische und emanzipatorische Ideen, sondern ebenso judenfeindliche, rassistische und sexistische Vorurteile und Ideologien tradiert werden.

Damit eröffnet sich noch eine weitere Konsequenz: Bei den in den Texten enthaltenen Diskriminierungsideologien handelt es sich um ein überindividuelles, über lange Zeiträume präsentes und damit auch politisches Problem. Diese Dimension können wir nicht angemessen erfassen, wenn wir uns in der Auseinandersetzung vorrangig auf die jeweiligen Autor:innen konzentrieren, da Rassismus, Sexismus und Antisemitismus dann primär als das Problem eines Individuums der Vergangenheit erscheinen – zum Beispiel als das der historischen Person Kants, Fichtes oder Hegels. Aber diese Ideologien sind mit diesen Personen ja keineswegs vergangen, was wir allein schon dadurch bemerken, dass wir immer noch über das entsprechende ideologische „Wissen“ verfügen, das es uns ermöglicht, die entsprechenden Klischees und Stereotype zu erkennen. Viele der herabwürdigenden Vorurteile sind uns auch heute keineswegs fremd und prägen durchaus noch Teile unseres gesellschaftlichen Diskurses.

Unter dieser Perspektive, die vor allem auf die traditionsbildenden Effekte unserer Rezeptionshandlungen und die damit verbundene Verantwortung aufmerksam macht, wird deutlich, dass uns das Thema und unsere Art und Weise damit umzugehen, etwas angeht. Zugleich hebt sie dessen interpersonale und politische Dimension hervor. Daher sollten wir dieses Thema weder als vergangen noch als „unphilosophisch“ abtun. 

II. Exemplarische Auseinandersetzung in Stellenkommentaren

In der Auseinandersetzung mit konkreten Stellen und an deren Einordnung in die jeweiligen Diskurskonstellationen lassen sich die interpersonale Dimension, die Traditionsbildung, aber auch die Erscheinungsvarianten und Funktionsweisen rassistischer, sexistischer und antijüdischer Diskriminierung anschaulich herausarbeiten. Im Projekt erarbeiten wir dazu eine Datenbank. Darin versammeln wir exemplarische Passagen aus Werken der klassischen deutschen Philosophie, die wegen ihres sexistischen, rassistischen oder antijüdischen Gehalts als problematisch gelten oder diskutiert werden. 

Im Kommentar wird erst einmal rekonstruiert, wie die Argumentation der konkreten Textstelle aufgebaut ist. Danach wird dargelegt, inwiefern diese Textstelle Gegenstand von zeitgenössischen Debatten war, und zuletzt, ob und wie die Textstelle in den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen rezipiert wird. Entsprechend sind die Stellenkommentare nach folgendem Schema aufgebaut: 

1. Rekonstruktion und Kontextualisierung der Passage und Argumentation in der jeweiligen Schrift und im Werk 

2. Kontextualisierung der Gedanken und gegebenenfalls Topoi in zeitgenössischen Debatten

Auf diese Weise wollen wir der Unterstellung eines homogenen Zeitgeistes entgegentreten und die Gegenstimmen der Zeit sichtbar machen. Zwar gibt es in jeder Gesellschaft dominierende Sichtweisen, doch daraus ist nicht zu schließen, dass es zu keiner Zeit alternative Meinungen gegeben hat. Wenn dem Autor/der Autorin die Kontroversen bekannt waren, dürfen wir auch unterstellen, dass er/sie eine ihm/ihr zurechenbare Meinung vertreten konnte.

3. Darstellung der aktuellen Forschungslage zu der Stelle/dem Topos und verschiedener Deutungsperspektiven

Am Beispiel der folgenden Stelle aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lassen sich Vorgehen und Anliegen unserer Datenbank gut skizzieren. Sie stammt aus einer Schrift, die zweifellos zum philosophischen Kanon gehört und in Auszügen auch regelmäßig im Schulunterricht behandelt wird. Der diskriminierende Topos fällt hier ganz nebenbei in einer Klammer: 

„Da sieht man nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich der Mensch (so wie die Südsee=Einwohner) sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann doch unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde […]. Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden […|“. (Kant, GMS, AA 4: 423)

Im ersten Schritt wird die Stelle im Argumentationszusammenhang der Schrift verortet, hier: der Präsentation grundlegender Formulierungen des Kategorischen Imperativs im zweiten Abschnitt der Grundlegung. Im zweiten Schritt wird der Bezug auf die zeitgenössische Diskussion hergestellt. Dass Kant den Verweis auf die „Südsee=Einwohner“ nur ganz beiläufig und ohne weitere Erläuterung einfügt, lässt darauf schließen, dass der Autor bei seinen Leser:innen ein entsprechendes – ideologisches – Vorwissen voraussetzen konnte. Von der Südsee (dem geografischen und kulturellen südlichen Pazifikraum) und ihren Einwohner:innen wurde in den 1780er Jahren in zahlreichen Reiseberichten erzählt. Aus ihnen hat auch Kant sein Wissen geschöpft: Prominente Berichte stammen etwa von James Cook, Geschichte der Seereisen nach dem Südmeere von 1775 (in Hawkesworth 1775), oder von Georg Forster, Reise um die Welt von 1780. Die zeitgenössischen Quellen werden mit den entsprechenden Passagen in der Datenbank verfügbar gemacht. 

In vielen dieser Berichte trifft man auf den Topos von der Indolenz, d.h. auf die Erzählung von der vorgeblich „natürlichen Faulheit und Trägheit“ der indigenen Bewohner:innen, die vielfach mit der Bezeichnung als „Wilde“ in ein frühes Stadium der Menschheit verwiesen werden. Es handelt sich bei der Klammerbemerkung also nicht um eine kreative Erfindung Kants, sondern um ein feststehendes Bild, das in der zeitgenössischen Literatur (und mitunter bis heute) immer wieder aufgerufen wird. 

Im Zusammenhang mit dieser Stelle wird dann auch auf kritische Stimmen („Gegenstimmen“) im zeitgenössischen Diskurs aufmerksam gemacht: so etwa auf Johann Heinrich Gottlob von Justi, der bereits 1762 scharfe Kritik an der eurozentristischen Weltsicht und ihrer Überheblichkeit übt und die damit verbundene Politik der Ausbeutung und Unterwerfung anprangert. 

Im Anschluss werden mögliche Deutungsperspektiven vorgestellt und in die aktuelle Diskussion des heutigen Forschungsdiskurs eingeordnet. 

Mit den Einträgen der Datenbank hoffen wir zu einer produktiveren und selbstkritischeren Auseinandersetzung beizutragen, die einer moralisierenden Verurteilung und einer einseitigen Apologetik gleichermaßen entgegenarbeitet. Uns ist es wichtig, auf die (mitunter traditionsbildenden) Zusammenhänge zwischen den Texten aufmerksam zu machen und solche Materialien bereitzustellen, die eine eigenständige Urteilsbildung und eine sachliche Diskussion ermöglichen. 

Die Datenbank hoffen wir mit ersten Beiträgen im Frühjahr 2026 freischalten zu können.

III. Good Practice Guides und Materialsammlung 

Auf unserer Homepage finden sich bereits einige Materialien zum Thema, die teils aus früheren Projekten entstanden sind und fortlaufend ergänzt werden: 

  • Ein „Dialogaufschlag“ wurde von einer Gruppe fortgeschrittener Studierender und Mitarbeiter:innen im Rahmen eines Seminars im SoSe 2020 erarbeitet. Der Dialogaufschlag stellt Arbeitsdefinitionen bereit und verweist auf philosophische Instrumentarien für eine kritische Auseinandersetzung für solidarische (Seminar-)Praxen und (kreative) Interventionen. 
  • Unter diesem Link gelangt man zu einer kleinen Auswahl der inzwischen zahlreichen Good Practice Guides (GPG) von Institutionen aus den USA, UK, Kanada sowie Deutschland.
  • Neben den GPGs findet man auch Links auf diversifizierte Leselisten.
  • Aus gemeinsamen Projekten mit Studierenden sind Arbeiten hervorgegangen, wie etwa die Webseite „erinnern:gestalten“. Das Seminarprojekt setzte sich mit dem Philosophen Jakob Friedrich Fries und seinen antisemitischen Schriften auseinander. Einen ausführlichen Werkstattbericht über dieses Projekt findet man hier.

Weiteres, didaktisch aufbereitetes Material wird im kommenden Jahr aus den gegenwärtig laufenden Teilprojekten auf der Homepage zur Verfügung gestellt. 


Literatur

Forster, Georg (1780): Johann Reinhold Forster’s Reise um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Seiner itztregierenden Großbritannischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen. Geschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten George Forster. Zweyter Band. Berlin: Haude und Spener 1780

Hawkesworth, John (1775): Geschichte der Seereisen nach dem Südmeere, welche von Commodore Byron, Capitain Carteret, Capitain Wallis und Capit. Cook im Delphin, der Swallow, und dem Endeavour nach einander ausgeführt worden sind. 3 Teile in einem Band. Frankfurt und Leipzig: Johann Georg Fleischer 1775.

Justi, Johann Heinrich Gottlob von (1762): Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen, in drey Büchern verfasset. Berlin, Stettin und Leipzig: Johann Heinrich Rüdigers 1762.

Kant, Immanuel (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 4, Hrsg. Benno Erdmann, Paul Menzer und Alois Höfler, 385–464. Berlin: De Gruyter 1968.


Zu den Personen

Andrea Marlen Esser ist Professorin für Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in der Politischen Philosophie, der Philosophie Kants und im Pragmatismus.

Karolin-Sophie Stüber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Koselleck-Projekt „Wie umgehen mit …“. Der Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit liegt in der Politischen Philosophie und der Philosophie Hannah Arendts.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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