Projektlernen an einer englischen Uni: Thema Partnerbeteiligung bei der Geburt

VON TANJA STAEHLER UND CARL VON USLAR-GLEICHEN (SUSSEX)

TANJA: Mit dem Ziel, durch Projektlernen Zukunftsmöglichkeiten im Bereich der Forschung für die Studierenden konkreter werden zu lassen, wurden an der englischen University of Sussex vor zehn Jahren sogenannte Junior Research Associate (JRA) Awards eingeführt. Das JRA-Programm ermöglicht Studierenden im zweiten Studienjahr, in einem Sommer acht Wochen lang an einem Projekt zu forschen. Eine akademische Lehrkraft betreut das Projekt und es gibt ein Mentoring-Programm, in das Doktoranden und Postdoktoranden einbezogen werden.

CARL: Mich hat das Format direkt angesprochen. Ich hatte mir als Bachelor-Student Gedanken darüber gemacht, wie es wohl möglich wäre, einen Einblick in die akademische Welt zu erlangen. Ich hatte schon länger große Lust, an einem echten Forschungsprojekt teilzunehmen und die Theorie, die ich im Studium lerne, an einem Thema meiner Wahl anzuwenden, wusste aber nicht, wie. Das JRA-Programm hat mir genau das ermöglicht. Allein schon deshalb war es eine wertvolle Erfahrung für mich, die sich wie ein echter Schritt in Richtung Zukunft anfühlte.

TANJA: Die Fördergelder werden von einem Gremium an der University of Sussex vergeben, das aus verschiedenen Fachbereichen zusammengesetzt ist. Auswahlkriterien sind die Qualität des Projekts und inwiefern die BewerberInnen vorbereitet sind. Es wird auch berücksichtigt, ob jemand besondere Hindernisse überwinden musste. Es handelt sich um eine Zusatzleistung zum Studium, die über den Sommer erbracht wird, wenn keine Lehrveranstaltungen stattfinden. Die Universität zahlt den erfolreichen BewerberInnen Lebenshaltungskosten für acht Wochen sowie 200 Pfund für Forschungsausgaben. Als Dokumentation wird ein Poster erwartet, auf dem die (unter Umständen vorläufigen) Projektergebnisse präsentiert werden. Diese Poster werden jeweils im Herbst ausgestellt.

CARL: Im Rahmen des JRA-Programms erhielten wir keine genauen Vorgaben, wie wir unsere Forschungsarbeit durchführen sollten, dafür aber weitreichende Unterstützung und wöchentliche Seminare, die eine Einführung zu diversen qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden boten. Das war ein sehr angenehmes Format, da es mir dabei half, meine doch relativ freie Forschungsarbeit zurück in eine wöchentlichen Routine und in den Kontext universitärer Hilfsstrukturen zu setzen.

Den Ambitionen unseres Projekts ließ sich schnell entnehmen, dass das Interview-Format am besten passte und wir beschlossen, dass sich aus 5-6 längeren Gesprächen genug qualitatives Material entnehmen lasse, um unsere Forschungsziele vorerst zu erreichen. Die Interviews habe ich dann durch Hörensagen organisiert und Bekannte aus meinem privaten und professionellen Umfeld gefunden. Für die Thematik von Geburt und Emotionen schien es uns ein Vorteil, die Gespräche mit Bekannten und in privaten Umgebungen führen zu können.

TANJA: Das JRA-Programm sieht vor, dass Studierende entweder an einem bestehenden Forschungsprojekt teilnehmen oder ein eigenes Forschungsprojekt entwickeln. In unserem Fall handelt es sich sozusagen um eine Mischung aus neu und alt: Carl hat sich entschieden, an meine bestehende Forschung zum Thema Geburt anzuschließen, aber den Schwerpunkt auf die Erfahrung des Partners oder der Partnerin zu legen, was neu ist. Anschließen konnte er auch an die für meine Geburtsforschung wichtigen Themen Emotion und Kommunikation – aber die Inhalte sind natürlich recht andere, wenn es um die Partnererfahrung geht. Methodisch bot es sich an, auch für das neue Projekt die Phänomenologie als Zugang zu wählen, da der Schwerpunkt auf der Erfahrung liegt und Phänomenologie viele Vorteile bietet, wenn es um die Artikulation von Emotionen und Leiblichkeit geht, auch im Zusammenhang der Auswertung von Interviews.

CARL: Tanja fragte mich am Anfang, ob das Thema Geburt nicht etwas bezugslos für einen Studenten wie mich sein könnte, da ich noch keine eigenen Erfahrungen in dem Bereich hatte. Demnach wäre die Sorge gewesen, dass ich eventuell keine klaren Parallelen zwischen dem Projekt und meinem Studium ziehen könnte.

Mir hat sich dieses Problem jedoch letztlich nicht gestellt. Ich studiere sowieso Phänomenologie. Themen wie Emotion und Kommunikation sind da natürlich Teil des Rahmenlehrplans. Da sich Geburt nun als exemplarische Erfahrung in der menschlichen Existenz präsentiert, in der diese Themen von fast unvergleichbarer Wichtigkeit sind, konnte ich interessante Verbindungen zu meinem Studienmaterial entdecken, sodass sich die zwei Dinge im Laufe des Projektzeitraums gegenseitig informierten. Natürlich wird einem die Aufgabe, solche Zusammenhänge herzustellen, als Forscher immer selbst überlassen. Gleichzeitig ist es, denke ich, repräsentativ für jede Art der Forschung, Ansätze zu entwickeln und auszubauen, während sich die Forschungsarbeit entwickelt, um so wertvolle Zusammenhänge zwischen Theorie und praktischer Anwendung aufzudecken.

TANJA: Bevor er mit den Interviews beginnen konnte, musste Carl sein Projekt an unserer Uni zur ethischen Begutachtung einreichen und dafür eine Risiko-Analyse, Anonymisierungsverfahren, Informationsbögen und Einverständniserklärungen für die interviewten Personen bereitstellen.Es hat mich sehr beeindruckt, wie Carl dies alles ganz professionell gemeistert hat, und das ist natürlich auch eine wichtige Lektion für seine Zukunft. Carl hat die sechs Interviews im Sommer 2024 geführt und die Partner zunächst gebeten, aus ihrer Perspektive die Erfahrung der Geburt von Anfang bis Ende zu schildern. Wir haben vereinbart, dass Carl eventuell nochmal eine offene Nachfrage stellt, wenn es um Emotionen und Kommunikation geht. Für mich bestätigen die Interviews, die Carl geführt hat, auf jeden Fall den Achterbahn-Charakter der involvierten Emotionen, also sozusagen, dass es rauf und runter geht, aber nicht gleichmäßig wie etwa eine Sinuskurve, sondern mit vielen Überraschungen: Aufregung, Schock, Erleichterung, Sorge usw. Das finde ich interessant, weil es auf jeden Fall für die Mütter so ist, und es ist gut zu wissen, dass es für die Partner auch so ist, wenngleich nicht unbedingt auf die gleiche Weise oder im gleichen Moment.

CARL: Das kann ich nur bestätigen. Den Interviews lässt sich klar entnehmen, dass Partner, ähnlich wie Mütter, eine tiefgreifende Fremdheit in der Geburtserfahrung empfinden. So ist der phänomenologische Charakter der Geburtserfahrung auch bei Partnern durch eine Vielfalt an komplexen, oft auch widersprüchlichen Emotionen geprägt. Auf dem JRA-Poster stellen wir dies mit Hilfe von Emmy van Deurzens „Emotionalem Kompass“ dar, auf dem sich erkennen lässt, dass Partner einerseits Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit, andererseits aber auch Stolz, Mut und Freude verspüren. Der Unterschied in der Existenz des Partners, der sich im Geburtsmoment manifestiert, ist somit von emotionaler Vielseitigkeit geprägt. Das Ereignis der Geburt ändert auch die Existenz des Partners grundlegend, vor allem durch die neue Verantwortung. Diese existenzielle Transformation präsentiert sich vorher nur abstrakt – bis zu dem Moment der Geburt, in dem sich dieses Wissen in einem phänomenologisch neuen Kontext konkretisiert. Insofern erwies sich der Begriff „Fremdheit“, der von Tanja bereits in ihrer vorherigen Arbeit angewendet wurde, auch hier als treffend, um die emotionale Diversität, die Partner im Moment der Geburt verspüren, zu beschreiben.

Die erste klare Implikation, die sich aus diesen Resultaten ziehen lässt, ist, dass diese neuen Gefühle, die durch die Geburt zum Vorschein kommen, zwischen Mutter, Partner und Hebamme (und später mit dem Kind) klar kommuniziert werden müssen, um so die Teilnahme des Partners und dessen Unterstützung in der Geburt zu verbessern.

TANJA: Genau. Weil Kommunikation so entscheidend ist, war ich sehr froh, ein Online-Modul für Hebammen zum Thema Kommunikation während der Geburt entwickeln zu können. Fremdheit ist eine wichtige Komponente, die sich von der Schwangerschaft, in der der eigene Leib zunehmend fremd wird, bis zur Begegnung mit dem Neugeborenen hinzieht. Philosophisch steht Fremdheit auch mit dem Staunen in Verbindung, das wiederum zur Emotionspalette der Geburt gehört.

Ich möchte gerne auch sagen, was mich in den Interviews am meisten überrascht hat. Die Partner waren insgesamt der Meinung, dass man vorher nichts wissen muss bzw. keine Informationen braucht. Es gab Aussagen wie „Von der Natur ist es so eingerichtet, dass man nichts vorher wissen muss“ oder auch „Es ist ein vollkommen automatischer Prozess, ein Millionen Jahre alter Prozess. Du musst nichts wissen“. Das zeigt den Kontrast zwischen Mutter und Partner. Für Mütter ist es nämlich besser, sich vorher zu informieren. Psychologische Studien haben gezeigt, dass dies zu weniger Ängstlichkeit und besseren Geburtserfahrungen führt. Und es gibt Informationen, die für Partner wichtig sein können, zum Beispiel, dass Geburtsmassage, also Rückenmassage während der Wehen, wirklich hilfreich ist.

CARL: Das fand ich auch sehr interessant. Den Interviews war zu entnehmen, dass Partner sich in ihrem Beitrag zur Geburt oft hilflos oder ohnmächtig vorkamen. Wie jedoch von Tanja angemerkt, muss dies nicht der Fall sein. Geburtsmassagen und Hilfe bei Geburtsstellungen bieten exzellente Beispiele, wie Partner sich aktiv an dem Geburtsprozess beteiligen können und einen positiven Beistand für die Mutter leisten können. Außerdem wirkt dies klar der phänomenologischen Fremdheit, die Partner großteils beschrieben, entgegen, indem eine frühe Teilnahme am Prozess, eine direkte Verbindung zur Mutter und zum Kind, angeleitet durch eine Hebamme, aufgebaut wird. Ein besseres Verständnis des Geburtsprozesses und aller beteiligten Personen ermöglicht in dieser Hinsicht eindeutig eine verbesserte Teilnahme.

TANJA: Für mich ist es besonders spannend zu sehen, wie die Methode der Phänomenologie, mit der ich mich seit meiner eigenen Studienzeit vor dreißig Jahren beschäftige, sich für Projekte dieser Art als so hilfreich erweist. Phänomenologie beginnt damit, unsere Alltagserfahrung beschreiben zu wollen. Die Begriffe, die sich dabei ergeben, und auch der Existenzbezug der Phänomenologie, eignen sich wirklich sehr gut für Untersuchungen zu Schwangerschaft, Geburt und das Mitsein mit Neugeborenen. Auch zeigt sich hier, wie auch in anderen Bereichen, dass Phänomenologie nicht ‚bloß‘ beschreibend ist, sondern auch Anregungen zur Kritik und Transformation gibt. Die involvierten Situationen und Beziehungen besser zu verstehen, bedeutet Anregungen zum Handeln. In einem Text, an dem Carl und ich gerade arbeiten und in dem es um ethische Implikationen gehen soll, beziehen wir uns auf die Existenzphilosophie und überlegen dann mit Hilfe der responsiven Ethik, die von Bernhard Waldenfels entwickelt wurde, wie es aussehen kann, auf die Geburtssituation einzugehen, in der Körper- bzw. Leibsprache und extreme Emotionen wichtige Rollen spielen. Responsive Ethik erlaubt, explizit anzuerkennen, dass auf die jeweilige Situation mit den jeweiligen singulären Personen einzugehen ist und sich dennoch allgemeine Strukturen aufweisen lassen, die immer eine Rolle spielen.

CARL: Ich möchte dazu noch sagen, dass auch ich besonders begeistert war, als wie fruchtbar sich die Ergebnisse einer phänomenologischen Forschung erweisen konnten. Als PPE-Student (Philosophie, Politik und Wirtschaft) ist mir bewusst, wie wichtig es ist, dass sich verschiedene Disziplinen gegenseitig informieren und ergänzen. Der phänomenologische Fokus auf die reine Erfahrung ermöglicht zunächst, wie bereits von Tanja erwähnt, wertvolle Einsicht in die Geburtssituation, in all ihrer Vielfalt und Komplexität. Diese Einsichten können wiederum wertvolle Implikationen für einen besseren Umgang und ein verbessertes Handeln im Geburtsprozess liefern. Das ist wichtig, damit sich Mutter und Partner gegenseitig verstehen, ihre Emotionen zum Ausdruck kommen und sich alle involvierten Parteien in der Vorbereitung auf die Geburt und im Moment der Geburt selbst besser unterstützen können. Dieser interdisziplinäre Prozess, in dem mit Hilfe der Philosophie reale Lebensprobleme untersucht werden, hat sich mir als besonders wertvoll erwiesen, da ich so eine neue Wertschätzung für die Philosophie erlangte, die ich allein in Lehrveranstaltungen nur schwer entdeckt hätte.

TANJA: Studierende haben das JRA-Programm auch in der Vergangenheit als sehr hilfreich für ihre Zukunft bewertet. Kürzlich habe ich von Phin Jennings gehört, der 2017 ein JRA-Projekt über Scham und Kunst aus feministischer Sicht unternommen hat. Er schrieb, dass er während des JRA-Projekts zum ersten Mal die an der Uni besprochene Philosophie auf zeitgenössische Kunst anwandte und sich für ihn alles Weitere daraus entwickelt hat: Sechs Jahre nach seinem Bachelor-Abschluss sagt er, dass ihm das, was er in seinem Philosophie-Studium gelernt hat, jeden Tag bei seiner Arbeit hilft, wenn er über zeitgenössische Kunst schreibt.

CARL: Für mich war in Bezug auf meine Zukunft außerdem das von Sussex arrangierte Mentoring-Programm sehr wichtig, denn dort hatte ich Gelegenheit, mit Dr. Alena Roth, die an der University of Sussex ihren Doktortitel erworben hat, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Bis heute bietet mir der Austausch mit meiner Mentorin und mit Tanja Inspiration und Anleitung, für die ich dankbar bin und die ich dem JRA-Programm zu verdanken habe.

Letztlich sind acht Wochen natürlich einfach zu kurz, um alle Ergebnisse präzise auszuarbeiten, und doch entstand am Ende ein Poster, das erste Resultate zusammenfasst und einen klaren Rahmen für zukünftige Arbeit bietet. Außerdem, dafür bin ich dir wirklich dankbar, Tanja, ist weitere Arbeit an dem Projekt geplant, sodass wir unsere Forschung fortsetzen können. Somit war das JRA für mich eine Tür in eine neue Welt, die mich begeistert und fordert und in der ich konstant Inspiration für alle anderen Aspekte meines Lebens entdecke. Auch dieser Blog ist für uns beide eine willkommene Gelegenheit, über den bisherigen Projektfortschritt zu reflektieren. Vielen Dank an die Redaktion!

TANJA: Ja, wir werden zwei Aufsätze schreiben, in denen wir die Projektergebnisse aus phänomenologischer Sicht interpretieren. Außerdem haben wir Fördermittel vom Sussex Arts and Humanities Research Council Impact Acceleration Account und von der British Society for Phenomenology bekommen, um in diesem Jahr Videos und Informationsbroschüren zum Thema Partnerhilfe bei der Geburt zu entwickeln. Wer zum Projektlernen oder zum Projekt Fragen oder Anregungen hat, kann sich gerne bei uns melden: T.Staehler@sussex.ac.uk und Cf395@sussex.ac.uk. Dankeschön!


Zu den Personen

Tanja Staehler hat an der Bergischen Universität Wuppertal studiert und promoviert. Sie lehrt seit 2003 an der University of Sussex. Ihre Arbeitsgebiete sind Platon, Hegel, Phänomenologie, Philosophie der Kunst und Philosophie von Schwangerschaft und Geburt.

Carl von Uslar-Gleichen hat 2021 sein Abitur am Schiller-Gymnasium in Berlin abgelegt. Seit 2022 studiert er an der englischen University of Sussex Philosophie, Politik und Wirtschaft (PPE) und befindet sich aktuell im letzten Semester.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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