Heute hören wir ein Referat

VON JASPER STELTER (KIEL)

Heute hören wir ein Referat – Großartig! Endlich mal wieder die Hälfte der Seminardauer verschwenden – für einen wenig fundierten, hastig hingeklatschten Überblick über den Text, der zu dieser Sitzung zu lesen war.

Drei nervöse Studierende wippen hinter dem Dozierendenpult von ihren Zehenspitzen auf die Hacken, während sie von ihren Karteikarten biographische Daten ablesen, die mittels eines Blickes in den Wikipedia-Eintrag der Autorin, um deren Kulturverständnis es heute gehen soll, für alle Anwesenden auch ohne Vortrag zugänglich wären.

„Anna Tsing ist eine US-amerikanische Anthropologin, bekannt für ihre interdisziplinäre Forschung zu Globalisierung, Umwelt und Kapitalismus. Sie wurde 1952 geboren und ihre Arbeit verbindet Anthropologie, Ökologie und politische Ökonomie. Tsing gilt als wichtige Stimme in der Debatte um ökologische Krisen“, sagt ChatGPT durch den Mund des armen Typen, der sich in der Zoom-Sitzung gestern Nacht widerwillig dazu bereiterklärt hat, den Einstieg zu übernehmen. Im Anschluss werden beflissen einige zentrale Thesen ihrer Abhandlung heruntergebetet. Besonders viel Quatsch erzählen die drei nicht, immerhin. Hatten wir auch schon anders dieses Semester.

Nach dem Seminar stehe ich mit drei Freund*innen um den nächstgelegenen Aschenbecher und führe mit ihnen die Sitzung da fort, wo aus Zeitgründen abgebrochen werden musste. Nächste Woche wollen wir offen gebliebene Fragen klären. Es wird sich niemand melden. Also scheinen alle den Text verstanden zu haben, super!

Möchte ich die drei fiktiven, aber aus persönlicher Perspektive nicht unrealistisch dargestellten Referierenden verurteilen, die mit Minimalaufwand fünf Leistungspunkte eingesammelt haben? Natürlich nicht, gut für sie, ich hätte es wahrscheinlich ähnlich gemacht. Möchte ich mich über Dozierende aufregen, die ihre Lehrveranstaltungen zu großen Teilen in die Hände von dafür mehr oder weniger ungeeigneten Studierenden geben? Nein, die Prüfungsordnung schreibt nun mal vor, dass Referate angeboten werden müssen. Am Kieler Philosophischen Seminar ist das Referat in einem Pflichtmodul die vorgeschriebene Prüfungsform, in zwei anderen Pflichtmodulen ist es als Prüfungsform wählbar. Aber muss das wirklich sein?

Diese Problematik wurde in diesem Blog bereits von Matthias Warkus verhandelt, der vorschlägt, den Einstieg in Seminarsitzungen nicht über Referate, sondern über Kleingruppenarbeit zu leisten und Referate statt dessen gebündelt am Ende eines Seminars stattfinden zu lassen. So lassen sich langwierige, misslungene Prüfungsleistungen zu Beginn jeder einzelnen Sitzung vermeiden.

Allerdings glaube ich, dass Referate durchaus einen gelungenen Einstieg in bestimmte inhaltliche Sitzungen darstellen können. Warkus‘ Vorschläge stellen zwar sicher, dass Diskussionszeit adäquat genutzt werden kann, nehmen aber Studierenden die Möglichkeit, mit einem eigenen Beitrag eine Seminarsitzung zu gestalten. Vor allem, wenn Referate in den richtigen Rahmen eingebettet werden, können sie eine gute Übung für Studierende sein. Das Sprechen über den Kontext, in dem eine Arbeit verfasst wurde, ihre Einordnung vor dem Hintergrund weiterer Literatur und die Einbettung in die Lektüre der vorangegangenen Wochen sind beispielsweise wichtige Teile der Auseinandersetzung mit philosophischen Texten, die im Rahmen eines kurzen Referates von Studierenden geleistet werden können. Auch die Rekonstruktion einer Argumentation kann, mit einem dichten Text als Grundlage, eine anspruchs- und wertvolle Aufgabe für einen Vortrag sein, der in das Seminargespräch einleitet.

Leider werden diese Ansprüche, wenn sie überhaupt gestellt werden, zumeist um Längen verfehlt. Wenn von Studierenden erwartet werden kann, dass jede Woche ein gewisses Lektürepensum vorbereitet wird, dann kann für eine Modulprüfung auch erwartet werden, dass zumindest ein wenig über diese Textgrundlage hinausgegangen oder sie deutlich intensiver aufgearbeitet wird. Warum Dozierende sich trotzdem oft damit zufriedengeben, dass eine halbe Sitzung lang eine grobe und/oder schlechte Zusammenfassung von dem gegeben wird, was alle schon kennen sollten, erschließt sich mir schon lange nicht mehr.

Aus Studierendenperspektive ist die Rechnung äußerst einfach: Solange am Ende des Referates eine halbwegs brauchbare Diskussionsfrage steht, um die sich die zweite Hälfte der Sitzung gestritten werden kann, kommen wenig unbequeme Nachfragen und der Mehraufwand im Vergleich zu anderen Sitzungen beschränkt sich auf das Erstellen einer schicken Powerpoint-Präsentation.

Ich schreibe diesen Text, weil die Unzufriedenheit darüber, dass viel zu häufig die Hälfte der Zeit, die für die Diskussion eines interessanten Textes eingeplant ist, für ein mehrwertfreies Referat aufgewandt wird, mit fortschreitender Dauer meines Studiums immer weiter wächst. 

Das möchte ich nicht nur uns Studierenden anlasten. Wir sind zwar am Ende die, die sich vorne hinstellen und Belanglosigkeiten aneinanderreihen, aber das Problem liegt auch auf didaktischer Ebene. Denn obwohl die Kieler Studienordnung für das Fach Philosophie eigentlich vorsieht, dass für ein Referat das Thema der Sitzung in umfassender Weise erarbeitet wird („Zusammenfassung der Thesen eines behandelten Autors, Rekonstruktion eines Argumentationsgangs, Klärung zentraler Begriffe etc.“), ist es völlig problemlos möglich, ohne jede Beschäftigung mit weiterführender Literatur gute Noten für Referate zu erhalten. Zwar wird bei der Verteilung der Referatsthemen in der ersten Woche des Semesters stets darauf hingewiesen, dass reine Wiederholung des Seminartextes nicht ausreichend für eine bestandene Prüfung sei, doch löst sich dieser Anspruch regelmäßig schon in der nächsten Sitzung in Luft auf. Zu oft verlassen sich Dozierende darauf, dass Referate die Arbeit derjenigen einholen, die den zu behandelnden Text, aus welchem Grund auch immer, nicht gelesen haben. Das funktioniert auch ganz wunderbar, führt aber dazu, dass der Anreiz, die Texte genau zu lesen und sich Fragen zum Argumentationsgang zu stellen, verloren geht. Wenn Referate nur dazu dienen, die Basis, auf der das Seminar arbeitet, wiederzugeben, warum sollten sich die übrigen Studierenden dann eingehend vorbereiten, wenn sie dafür nicht belohnt, sondern mit einer gähnend langweiligen ersten halben Stunde bestraft werden?

Argumentiere ich hier gerade für mehr Arbeitsaufwand im Philosophiestudium? Nur bedingt. Ich wünsche mir nur, dass der Arbeitsaufwand, der von uns Studierenden für die Seminarvorbereitung und für Prüfungsleistungen erwartet wird, einen dauerhaften Mehrwert hat. Ebenso wenig will ich diesen Text so verstanden wissen, dass jedes Referat eine Prüfung sein sollte, die ein ähnliches Engagement erfordert wie beispielsweise eine Hausarbeit. Aber einen Mehraufwand, der über das Schreiben von drei Karteikarten und die Google-Suche nach einem Wikipedia-Artikel hinausgeht, kann man von uns durchaus erwarten.

Von alleine werden wir diesen Mehraufwand aber wohl nur im Ausnahmefall betreiben. Also, liebe Dozierende: Fordert ihn bitte ein!


Zur Person

Jasper Stelter ist Student der Philosophie und Politikwissenschaft an der CAU Kiel. Schwerpunkte in seinem Studium sind die Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts und die Wissenschaftsphilosophie.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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