Aktive Rollen für Studierende in großen Philosophie-Seminaren

VON TANJA RECHNITZER (HANNOVER)

Ein Philosophie-Seminar mit über 80 Teilnehmenden – vor dieser Herausforderung stand ich im Sommer 2023 mit meinem Seminar zum Thema „Ziviler Ungehorsam“. Wie kann man große Seminare aktivierend gestalten, die Studierenden sinnvoll einbinden und konstruktive Diskussionen ermöglichen? Für diesen Zweck habe ich ein Konzept der „aktiven Rollen“ entwickelt und umgesetzt, bei dem Studierende in die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Seminarsitzungen eingebunden werden.

Herausforderungen: Studierende einbinden, Verbindlichkeit herstellen, Aufwand vertretbar halten

Das Konzept sollte eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Erstens war mir wichtig, dass die zu erbringende unbenotete Studienleistung – die bei uns laut Studienordnung als Voraussetzung für das Absolvieren der Prüfungsleistung zu erfüllen ist – die Studierenden aktiv in die Gestaltung der Lehrveranstaltung einbezieht und zum Austausch anregt, ohne sie von anderen Studierenden abhängig zu machen. Unbedingt vermeiden wollte ich Gruppenleistungen, bei denen die gesamte Arbeit an einer Person hängen bleibt. Zweitens konnte von den Studierenden weder eine verbindliche Anmeldung noch eine Anwesenheitspflicht verlangt werden. Das Konzept sollte daher mit unterschiedlichen Gruppengrößen funktionieren (also nicht zusammenbrechen, wenn doch „nur“ 20 Personen am Seminar teilnehmen) und idealerweise eine gewisse Verbindlichkeit erzeugen. Und drittens sollte es den Arbeitsaufwand für mich als Dozentin trotz großer Gruppe überschaubar halten, aber dennoch effiziente Rückmeldungen an die Studierenden ermöglichen. 

Konzept: „Aktive Rollen“ zur Seminargestaltung durch Studierende

Das Herzstück des Seminars bildet der Ansatz des „multiplen Aktivierens“: Die Studierenden übernehmen für die Studienleistung mindestens drei verschiedene aktive Rollen, verteilt auf drei verschiedene Sitzungen. Den Studierenden stehen fünf Rollen zur Auswahl: Textstrukturierung, Diskussionsinput, Diskussionsleitung, Ergebnisprotokoll und Audioessay. 

Drei dieser Rollen beinhalten eine besondere Verantwortung für die Vorbereitung der Sitzung und die Strukturierung der Diskussion:

  • Textstrukturierung: eine zehnminütige Präsentation, die die zentralen Thesen und Konzepte der Textgrundlage herausarbeitet und mit geeignetem Medieneinsatz vorstellt
  • Diskussions-Input: Vorbereitung von ein bis zwei Diskussionsfragen, wobei pro Frage in ganzen Sätzen kurz erklärt wird, warum sich diese Frage aufgrund des Textes stellt, ohne die Frage selbst zu beantworten
  • Diskussionsleitung: vorbereitende Strukturierung und Auswahl der abgegebenen Diskussionsfragen sowie Moderation der Diskussion für ein Zeitfenster von ca. 20 Minuten (teilweise in Kleingruppen)

Zwei weitere aktive Rollen beinhalten die Verantwortung für die Dokumentation der Ergebnisse aus der Seminarsitzung, um Erkenntnisse festzuhalten und offene Fragen wieder aufgreifen zu können.

  • Ergebnisprotokoll: eine ausgeschriebene, strukturierte Zusammenfassung der Diskussionspunkte, erarbeiteten Ergebnisse und offenen Fragen aus der Seminarsitzung im Umfang von 1 bis 3 Seiten
  • Audio-Essay: Bearbeitung einer der Diskussionsfragen aus der Sitzung, dokumentiert in Form einer Audioaufnahme von ca. 5 Minuten

Damit wird jede Sitzung von einer jeweils anders zusammengesetzten Gruppe von Studierenden mitgestaltet, die aktiv an der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung beteiligt sind. Jede dieser Rollen hat für sich klare Kriterien, die die Studierenden auch relativ unabhängig von den anderen Rollen einer Sitzung erfüllen können. Da es fünf Rollen zur Auswahl gibt, können Studierende bei der Wahl ihrer drei Rollen in gewissem Maß ihre persönlichen Stärken und Vorlieben berücksichtigen. Dabei ist dennoch sichergestellt, dass alle Studierende sowohl schriftliche als auch mündliche Beiträge erbringen. Wer eine der vorbereitenden Rollen gewählt hat, muss zudem einige Tage vor der Sitzung ein kurzes schriftliches Dokument abgeben. So werden die Studierenden ermutigt, rechtzeitig mit der Vorbereitung zu beginnen, und ich als Dozentin kann mir einen Eindruck davon verschaffen, ob die Vorbereitung funktioniert.

Umsetzung: Klare Anforderungen und Verbindlichkeit durch Checklisten und Wiki

Für jede aktive Rolle habe ich eine Checkliste mit den Kriterien erstellt, die Studierende ausfüllen und zusammen mit ihrer Vorbereitung abgeben. Das soll sie dabei unterstützen, sich die Anforderungen noch einmal bewusst zu machen und den eigenen Erfolg zu reflektieren. Gleichzeitig dienen mir die Checklisten als Basis für ein kurzes und effizientes Feedback zu jeder Abgabe.

Wer wann welche Rolle übernimmt, koordinieren wir über das „Wiki“ auf Stud.IP, unserer Lernplattform. Um eine gewisse Verbindlichkeit und Planbarkeit zu erreichen, sollen sich die Studierenden bis Ende der 2. Vorlesungswoche selbständig für ihre aktiven Rollen eintragen. Danach kann die Wiki-Seite nur noch von mir bearbeitet werden und die Rollen und Termine sind für alle einsehbar. Spätestens eine Woche vor der Sitzung schicke ich jeweils eine standardisierte Erinnerungs-E-Mail an alle Studierenden, die eine aktive Rolle für die kommende Sitzung übernommen haben.

Auswertung: Was hat sich bewährt? 

Das Konzept hat insgesamt sehr gut funktioniert und die Studierenden haben die Sitzungen engagiert mitgestaltet. In der Evaluation und in persönlichen Rückmeldungen gab es viel Lob für die aktiven Rollen. Studierende merkten zum Beispiel positiv an, dass diese Rollen aus ihrer Sicht zu mehr Beteiligung und Anwesenheit im Seminar beigetragen und konstruktive Diskussionen ermöglicht hätten. Durch die verschiedenen Rollen seien sie motiviert gewesen, am Ball zu bleiben, auch wenn sie mal für einige Sitzungen den Faden verloren hätten.

Die aktiven Rollen waren auch hilfreich bei der Sitzungsplanung, da sie eine gewisse Struktur vorgaben. Eine typische Seminarstunde lief nach folgendem Schema ab: Aufgreifen von Punkten aus der letzten Sitzung auf Grundlage der Protokolle oder Audioessays, dann Kurzreferat als Textstrukturierung, Diskussion in Kleingruppen (geleitet von Studierenden) und schließlich eine von mir geleitete Abschlussdiskussion und Ergebnissicherung im Plenum. 

In den Fällen, in denen nicht alle vorbereitenden und durchführenden Rollen besetzt waren, habe ich manchmal selbst zu Beginn die wichtigsten Punkte aus dem Text kurz zusammengefasst oder die Diskussion geleitet. Ich habe aber auch die Möglichkeit genutzt, die Sitzung dann anders zu gestalten, um trotzdem hauptsächlich die Studierenden zu aktiveren – zum Beispiel, indem ich die wichtigsten Punkte in Murmelgruppen oder via Think-Pair-Share habe wiederholen lassen, oder indem wir die Diskussionsfragen für die Gruppenarbeit gemeinsam im Plenum strukturiert haben. Es ist also ohne großen Aufwand möglich, einzelne Elemente zu variieren oder die Sitzungen anders zu gestalten.

Das Eintragen in das Wiki hat sehr gut funktioniert und ausreichend Verbindlichkeit und Planbarkeit geschaffen. Die Checklisten waren insofern hilfreich, als sie klare Kriterien boten, auf die ich verweisen konnte. Aber obwohl die Checklisten kurz und prägnant waren, war der Aufwand für individuelles Feedback gerade bei den größeren Gruppen am Anfang dennoch zu groß. Letztlich habe ich daher die Abgaben nur kurz kontrolliert und mich nur dann bei den Studierenden gemeldet, wenn die Kriterien nicht erfüllt waren.

Ausblick: Mögliche Variationen

Insgesamt bin ich mit dem Konzept sehr zufrieden und kann mir gut vorstellen, es so oder in leicht abgewandelter Form wieder einzusetzen. Eine mögliche Variante wäre, andere oder zusätzliche Rollen anzubieten. Eine Idee, die ich gerne ausprobieren würde, ist das Peer-Feedback. In dieser Rolle könnten sich die Studierenden anhand der Checklisten und offenen Fragen gegenseitig Feedback geben. Eventuell würde ich hier zwei oder sogar drei solcher Feedbacks für das Erfüllen der Rolle verlangen, damit es vom Aufwand her ähnlich bleibt wie Referat, Diskussionsfrage oder Protokoll.

Möchte man die Anzahl aktiver Rollen gleichmäßiger über das Semester verteilen, könnte man die Anzahl der Einzelleistungen pro Sitzung für eine bestimmte Rolle begrenzen. Ich habe lediglich die Text-Strukturierungen (ein Vortrag, alleine oder zu zweit) und die Diskussionsleitung limitiert (maximal fünf Einzelleistungen pro Sitzung, bestimmt durch die Gruppengröße); man könnte natürlich auch die anderen Rollen beschränken. Anstelle eine gleichmäßige Verteilung zu erzwingen, fand ich es jedoch vorteilhafter, die Studierenden entlang ihres eigenen Workloads im laufenden Semester selbst entscheiden zu lassen, wann sie eine aktive Rolle übernehmen. Dass es gegen Ende des Semesters eine geringere Auslastung der aktiven Rollen gab, war zu diesem Zeitpunkt sogar von Vorteil: Da in den ersten beiden Dritteln des Seminars bereits viel inhaltlich erarbeitet wurde, konnte ich den zusätzlichen Freiraum für die Sitzungsgestaltung nutzen, um zum Beispiel Transferaufgaben zu stellen oder Blöcke zur Prüfungsvorbereitung einzubauen.

Zum Erfolg des Seminars hat neben dem Konzept sicher auch beigetragen, dass viele Studierende bereits von sich aus am Thema „Ziviler Ungehorsam“ interessiert waren. Positiv wurde auch immer wieder angemerkt, dass dem Seminar ein Reclam-Band als Grundlagenlektüre diente, den die Studierenden günstig erwerben konnten. Das hat vermutlich zusätzlich begünstigt, dass die Studierenden in ihren aktiven Rollen Beziehungen zwischen den verschiedenen Texten herstellen konnten.


Anmerkung und Dank

Für die Entwicklung dieses Konzepts habe ich viele hilfreiche Anregungen – zum Beispiel das Kernkonzept des „multiplen Aktivierens“ sowie die Idee, das Wiki zur Vergabe der Rollen zu nutzen – aus dem kollegialen Lehrpraxiscoaching im Rahmen des Weiterbildungsprogramms der Leibniz Universität Hannover erhalten. Mein herzlicher Dank gilt meiner engagierten Peergruppe sowie unserer Coach Anne Ebeling.


Zur Person

Tanja Rechnitzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz Universität Hannover. In Ihrer aktuellen Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft und Fragen zu Methoden der Philosophie. Ihre persönliche Website ist www.tanjarechnitzer.wordpress.com


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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