VON OLIVIA BAILEY (BERKELEY)
(Hinweis: Dieser Beitrag wurde zuerst auf Englisch als Handout für Studierende verfasst, das Manuskript ist hier zu finden. Übersetzung: LehrGut-Redaktion.)
Bevor man beginnt, sich an etwas zu beteiligen, möchte man natürlich wissen, worum es dabei geht. Also: Ein philosophisches Gespräch. Was ist das? Das ist eine erstaunlich schwierige Frage. Wir könnten versuchen, es anhand des institutionellen Rahmens zu definieren: Ein philosophisches Gespräch ist das, was in einem philosophischen Seminar oder in der Sprechstunde stattfindet. Aber das reicht nicht aus. Zum einen sind diese langweiligen Diskussionen, in denen wir Dinge wie die Prüfungsplanung besprechen, nicht philosophisch. Und zum anderen haben Sie mit Sicherheit schon viele philosophische Gespräche geführt, bevor Sie sich für einen Philosophiekurs eingeschrieben haben. Ebenso frustrierend ist der Versuch, das philosophische Gespräch anhand seines Gegenstandes zu definieren. Die Gegenstände der Philosophie sind äußerst vielfältig. Man kann nicht einfach sagen, dass sich philosophische Gespräche mit den „großen“ oder „tiefen“ Fragen befassen. „Was sind Löcher?“ ist eine anerkannte philosophische Frage (Sie können hier alles darüber lesen, wenn Sie möchten), aber in der Gesamtschau der Dinge ist es bestenfalls eine mittelgroße Frage. In frustrierten Momenten könnte uns der Gedanke beschleichen, dass ein philosophisches Gespräch einfach eines ist, das sich mit einer „unbeantwortbaren“ Frage beschäftigt. Das scheint jedoch sowohl zu umfassend zu sein (ich wette, Sie können sich eine unbeantwortbare Frage vorstellen, für die sich das Etikett „philosophisch“ nicht eignet) als auch übermäßig pessimistisch.
Ein vielversprechenderer Vorschlag ist, dass ein Gespräch nicht (oder zumindest nicht nur) durch den Rahmen oder seinen Gegenstand philosophisch wird, sondern auch durch die Methoden, die die Teilnehmenden verwenden. In einem sehr weiten Sinne könnten wir sagen, dass ein philosophisches Gespräch eines ist, bei dem wir durchdachte Argumente für Behauptungen entwickeln und austauschen. Aber ist diese Charakterisierung nicht so abstrakt, dass sie praktisch nutzlos ist? Als ich anfing, an philosophischen Gesprächen teilzunehmen, wusste ich, dass das Formulieren von Argumenten etwas damit zu tun hat. Doch ich war mir trotzdem nicht sicher, welche Dinge genau als ein nützlicher Gesprächsbeitrag gelten könnten.
Die Fähigkeit zur Teilnahme an einem philosophischen Gespräch kann man nur durch Übung erwerben. Man kann nicht lernen, wie man sich gut an philosophischen Gesprächen beteiligt, ohne tatsächlich daran teilzunehmen, genauso wenig wie man eine gute Geigerin werden kann, ohne einmal den Bogen auf die Saiten zu setzen. Und ich bin selbst noch dabei, meine Fähigkeiten im philosophischen Gespräch zu entwickeln. Aber ich kann Ihnen mit dieser Liste von Möglichkeiten, wie Sie zu einem philosophischen Gespräch beitragen können, einen Vorsprung verschaffen. Probieren Sie es aus. Ich denke, Sie werden feststellen, dass das Experimentieren damit Ihnen helfen wird zu verstehen, was ein philosophisches Gespräch eigentlich ist. Und wenn Ihnen neue Möglichkeiten zur Ergänzung der Liste einfallen, lassen Sie es mich bitte wissen.
20 (+1) Möglichkeiten, zu einem philosophischen Gespräch beizutragen
1. Formulieren Sie die Behauptung (einer anderen Person) neu.
Wenn Sie mit einer philosophischen Behauptung konfrontiert werden, kann es für Ihr eigenes Verständnis und für das Verständnis aller an der Diskussion Beteiligten hilfreich sein, wenn Sie versuchen, diese Behauptung in Ihren eigenen Worten wiederzugeben. Wichtig ist, dass das Wiedergeben nicht dasselbe ist wie das so genannte „Thesaurieren“, bei dem wir mechanisch jedes Wort gegen ein anderes austauschen, das dasselbe zu bedeuten scheint. Bei der Umformulierung geht es darum, den Gedanken zu erfassen, den ein Autor oder eine Rednerin mitzuteilen versucht, und ihn dann so auszudrücken, dass er für andere deutlicher wird, die ihn beim ersten Mal nicht verstanden haben.
2. Reformulieren Sie eine (eigene) Behauptung.
Manchmal braucht es mehrere Anläufe, um sich verständlich zu machen. Die Tatsache, dass andere nicht sofort verstehen, was Sie zu sagen versuchen, bedeutet nicht, dass Sie aufgeben sollten. Und manchmal hilft es Ihnen, die eigene Behauptung zu reformulieren, um selbst genau zu verstehen, was Sie meinten.
3. Rekonstruieren Sie ein Argument.
Diese Option ist die komplexere Cousine von (1). Wenn Sie mit einem schwierigen oder komplexen Argument konfrontiert werden, versuchen Sie, es mit Ihren eigenen Worten zu reformulieren. Ein Argument in der Prämissen-Konklusion-Form darzustellen, kann besonders hilfreich sein. Bei besonders komplexen Argumenten ist manchmal auch das Zeichnen eines Diagramms ein guter Weg, um weiterzukommen. Bisweilen reicht ein einziger Kommentar aus, um ein Argument zu rekonstruieren. Oft ist die Rekonstruktion eines Arguments jedoch eine langwierige Aufgabe, die Zusammenarbeit erfordert.
4. Bieten Sie einen neuen Grund dafür an, die Behauptung eines anderen zu akzeptieren.
Es kann mehr als einen Grund geben, eine Behauptung zu akzeptieren, einschließlich solcher, an die die Autorin der Behauptung vielleicht nicht gedacht hat. Das Aufzeigen eines zusätzlichen stützenden Grundes ist fast immer ein sehr wertvoller Schritt.
5. Bieten Sie einen Einwand an.
Einwände spielen im philosophischen Gespräch eine sehr wichtige Rolle. Sie stellen Möglichkeiten dar, Behauptungen zu klären und zu revidieren. Eine Art und Weise, einen Einwand zu formulieren, besteht darin, einen Fall anzuführen, für den die Behauptung der Autorin/anderer Teilnehmender ein problematisches Urteil zu ergeben scheint. Eine andere Möglichkeit besteht darin, auf einen logischen Fehler in der Argumentation für eine Behauptung hinzuweisen. Wenn Sie einen Einwand erheben, ist es wichtig, wohlwollend zu sein. Versuchen Sie sicherzustellen, dass sich der Einwand auf die eigentliche Behauptung bezieht und nicht auf einen weniger plausiblen Cousin dieser Behauptung.
6. Bieten Sie eine Antwort auf einen Einwand an.
Jeder kann dies tun, nicht nur die Person, die eine kritisierte Behauptung zuerst formuliert hat. Es kann sogar besonders nützlich sein, auf einen Einwand, den Sie erheben, gleich eine mögliche Antwort folgen zu lassen.
7. Rekapitulieren Sie die Dialektik.
Es ist nicht immer leicht zu verfolgen, wo man sich in einem philosophischen Gespräch befindet. Es kann hilfreich sein zu versuchen, den Stand der Dinge in einem philosophischen Gespräch zusammenzufassen. Auf welche Frage konzentrieren wir uns? Wie verhalten sich die jüngsten Beiträge zueinander? Eine Sache, die bei der Zusammenfassung hervorgehoben werden sollte, ist die Frage, inwieweit die kürzlich aufgestellten Behauptungen ähnlich oder unterschiedlich sind. Sind die Gesprächsteilnehmenden sich einig, und wenn ja, worüber? Sie können aber auch komplexere Zusammenhänge zwischen verschiedenen Behauptungen hervorheben und ebenso Schritte hervorheben, die keine neuen Behauptungen beinhalteten. Um die Zusammenfassung zu erleichtern, könnten Sie sich Notizen dazu machen, wer was sagt.
8. Laden Sie andere zu Beiträgen ein.
Dies ist eine oft übersehene, aber wichtige Möglichkeit, um eine philosophische Untersuchung voranzubringen. Sie können Ihre Einladung unterschiedlich ausgestalten. Wäre es am nützlichsten, von jemandem ein anschauliches Beispiel zu erhalten? Oder zu erfahren, welche Einwände andere gegen Ihre Behauptung haben? Oder zu erfahren, welche Frage sie als nächstes insbesondere diskutieren möchten?
9. Lenken Sie die Aufmerksamkeit auf relevante Textquellen.
Der Verweis auf Textstellen, die für die jeweilige Frage relevant sind, kann helfen, eine Diskussion zu fokussieren.
10. Stellen Sie eine klärende Frage (an die anderen Teilnehmenden).
Sie sind sich nicht sicher, was eine Dozentin/ein Kommilitone mit einer Behauptung, einer Frage oder einem Begriff gemeint hat? Sie können um Erläuterung bitten! Es kann hilfreich sein, eine solche Frage in Form möglicher Interpretationen zu formulieren: z.B. „Ich glaube, du könntest entweder x oder y im Sinn gehabt haben, aber ich bin mir nicht sicher, welches von beiden.“
11. Stellen Sie eine klärende Frage (an den Text/die Autorin).
Wie (10) oben, nur dass Sie die anderen Diskussionsteilnehmenden einladen, Antworten im Namen des Textes/der Autorin auszuprobieren. Auch hier kann es hilfreich sein, eine solche Frage in Form möglicher Interpretationen zu formulieren.
12. Fragen Sie nach einer Definition.
Es kann vorkommen, dass Ihnen unbekannte Wörter begegnen oder dass bekannte Wörter auf ungewohnte Weise verwendet werden oder dass mehrere Teilnehmende dasselbe Wort auf unterschiedliche Weise benutzen. Zögern Sie nicht, in solchen Fällen danach zu fragen!
13. Bieten Sie ein Fallbeispiel an.
Es kann nützlich sein, konkrete Fälle zu nennen, anhand derer sich überprüfen lässt, ob die Behauptungen eines Autors angemessen sind. Die Fälle können imaginär oder real sein und sie können auf (mindestens) drei verschiedene Arten angeboten werden: (1) um eine Behauptung in Frage zu stellen („du sagst p, aber hier ist ein Fall f, in dem p nicht wahr zu sein scheint“), (2) um eine Behauptung zu unterstützen („du sagst p, das wird Fall f sehr gut gerecht“), (3) um mehr über eine Behauptung und/oder den Fall zu erfahren („du sagst p, ich möchte gerne wissen, was p uns über f sagen würde“).
14. Identifizieren Sie eine weitere Implikation.
Die Implikationen der Behauptung eines anderen hervorzuheben, kann ein wirksames Mittel sein, um ein philosophisches Gespräch voranzubringen: Vielleicht lässt sich die Einsicht Ihrer Kommilitonin auf einen anderen Bereich anwenden oder kann helfen, ein weiteres Interpretationsproblem zu lösen.
15. Identifizieren Sie eine Annahme.
Eine Behauptung zu identifizieren, die sich hinter einer anderen Behauptung oder einem Argument zu verstecken scheint, ist ein Schritt, den wir oft machen, wenn wir einen Einwand formulieren („Du scheinst a als selbstverständlich vorauszusetzen, wenn du argumentierst, dass b wahr ist, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass a wahr ist, also sieht b für mich wackelig aus“). Eine Annahme zu identifizieren kann aber auch dann nützlich sein, wenn wir keinen bestimmten Einwand im Sinn haben.
16. Nehmen Sie eine Unterscheidung vor.
Manchmal werfen wir zwei Begriffe oder Behauptungen in einen Topf, die eigentlich auseinandergehalten und getrennt betrachtet werden sollten. Wenn Sie glauben, dass dies der Fall ist, weisen Sie darauf hin! Und selbst wenn die Diskussion noch nicht über eine wichtige Unterscheidung hinweggegangen ist, kann es helfen, sich darüber klar zu werden, was eine Behauptung oder ein Begriff nicht ist, um zu unserem Verständnis davon beizutragen, worum es sich dabei handelt.
17. Benennen Sie eine fadenscheinige „Unterscheidung“ als das, was sie ist.
Philosoph:innen lieben es, Unterscheidungen vorzunehmen, daher ist dies ein sehr viel seltenerer Schritt, aber manchmal ist es der richtige. Haben Sie den Verdacht, dass zwei scheinbar unterschiedliche Argumente oder Behauptungen in Wirklichkeit nur ein und dasselbe sind, bloß in verschiedenen Formulierungen verkleidet? Machen Sie darauf aufmerksam!
18. Fragen Sie nach dem großen Ganzen.
Was ist die grundlegende Frage, die in diesem Text oder in dieser Diskussion behandelt wird? Warum ist dieses Thema wichtig? Dies sind äußerst bedeutsame Fragen und sie weisen auf einen Bereich hin, in dem oft Annahmen versteckt sind. Scheint jeder davon auszugehen, dass q eine wirklich wichtige Frage ist, aber Sie verstehen nicht, warum? Sind Sie sich nicht sicher, warum die Autorin die zu untersuchende Frage so formuliert hat, wie sie es getan hat? Dann ist es an der Zeit, nach dem großen Ganzen zu fragen!
19. Beziehen Sie die Details auf das große Ganze.
Steht in Verbindung mit (18) oben. Wie wirkt sich der Erfolg oder Misserfolg eines bestimmten Teils des von Ihnen betrachteten Arguments auf das große Ganze aus? Diese Frage zu stellen und zu beantworten ist notwendig, um herauszufinden, worauf Sie Ihre Aufmerksamkeit am ehesten richten sollten.
20. Bringen Sie einen Text oder eine Behauptung mit anderen ins Gespräch.
Es kann nützlich sein, die Behauptung(en), über die Sie nachdenken, mit anderen Behauptungen zu verknüpfen, denen Sie zuvor begegnet sind, sei es in anderen Texten/Diskussionen oder im selben Text/Gespräch. Sie können fragen, in welcher Beziehung diese zueinander stehen: Unterstützen sie sich gegenseitig? Wenn ja, welcher Art ist die Unterstützung? Widersprechen sie einander oder stehen sie zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander? Handelt es sich vielleicht um dieselbe Behauptung, die nur anders formuliert ist? Hinweis: Wenn Sie einen solchen Schritt machen, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, wie vertraut Ihre Gesprächspartner:innen vermutlich mit den beiden oder mehreren Punkten sind, die Sie zueinander in Beziehung setzen. Wenn Sie die Behauptung n mit einer anderen Behauptung m in Verbindung bringen, die Ihren Gesprächspartner:innen nicht bekannt ist, ist das nicht hilfreich, es sei denn, Sie machen sich die Mühe, die Behauptung m für sie zu erläutern!
21. Hören Sie aufmerksam zu.
Ich möchte klarstellen, dass dies nicht selbst ein Gesprächszug und aufmerksames Zuhören kein Ersatz für das Aussprechen Ihrer Gedanken ist. Doch aufmerksames Zuhören ist eine Voraussetzung dafür, dass die vorangegangenen Schritte zuverlässig und erfolgreich ausgeführt werden können. Daher verdient das aufmerksame Zuhören eine eigene kleine Fanfare. Aufmerksam zuzuhören bedeutet unter anderem: das eigene Verständnis des Gesagten zu überprüfen; zu warten, bis man den ganzen Gedanken gehört hat, bevor man sich darauf konzentriert, die eigene Antwort im Kopf durchzuspielen; vorsichtig mit den eigenen Annahmen darüber zu sein, was die andere Person meinen muss; Ablenkungen abzustellen, elektronische oder anderweitige.
Zur Person
Olivia Bailey ist Assistenzprofessorin für Philosophie an der University of California, Berkeley. Ihre Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie verschiedene Arten von epistemischen Tugenden ethische Tugenden ermöglichen, konstituieren und (möglicherweise) beeinträchtigen. Sie interessiert sich besonders für die Bedeutung von emotional aufgeladener Vorstellungskraft und Verstehen sowie für die Kluft zwischen intellektuellem Verstehen einer Sache und dem Wissen „im Herzen“. Ihre Arbeit in diesen Bereichen ist von der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts inspiriert.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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