VON FLORIAN WOBSER (PASSAU)
Die folgenden Überlegungen basieren auf der Auffassung, dass Lehre – wie Unterricht – multimedial sein sollte. Seminare und Vorlesungen sollten zumindest punktuell durch Bildmedien, seien es stehende oder bewegte, zugunsten von konkretisierender Anschaulichkeit und Abwechslung ergänzt werden. Sofern dies in der Philosophie überhaupt geschieht, dominiert häufig eine Fokussierung auf die Handlung bzw. Konflikte in Spielfilmen. Dagegen wird hier eine Position skizziert, die immer auch die Form einer Filmsequenz würdigt. Wird eine Sequenz, die viele filmische Aspekte bündelt, gezielt ausgewählt, analysiert und philosophisch gedeutet, so kann diese als kleine Form gelten, die viele pragmatische Vorteile hat.
Das vielfältige Verhältnis zwischen einem Teil und seinem Ganzen ist philosophisch nicht allein theoretisch und praktisch von hoher Relevanz, sondern betrifft in einem besonderen Maße auch die didaktische Dimension von Lehrmethoden. Wie bei Auszügen aus philosophischen Primärtexten ist ganz vordergründig die Länge aller ausgewählten Unterrichtsmedien von Bedeutsamkeit. Orientiert man sich bezüglich eines punktuellen oder auch regelmäßigen Einsatzes bewegter Bilder in den eigenen Lehrveranstaltungen an Spielfilmen, hat man aber ein fundamentales Problem – diese passen, genauso wie u.a. eine Ganzschrift pro Woche, zeitlich einfach nicht in die Lehrveranstaltung. Daher lässt man Spielfilme und andere Ganzfilme – anders als z.B. pragmatische Medien wie Interviews o.Ä. – einfach ganz draußen.
Das aber reproduziert nicht nur die strukturelle Diskriminierung eines Unterrichtsmediums im Vergleich zu traditionellen Textformen (s.o.), sondern ist auch aus didaktisch-methodischen Gründen einfach sehr schade – und vor allem gar nicht nötig! Trauen wir uns einfach, Filme reflektiert, wie Bücher, nach geeigneten Auszügen zu durchforsten und für jeweilige Lehrkontexte thematisch passende Sequenzen aus ganzen Spielfilmen oder Dokus auszuwählen. So müssen wir nicht auf deren Chancen wie konkretisierende Anschaulichkeit und die durch Medienwechsel für Student:innen (ggf. aber auch für uns selbst) vorteilhafte Abwechslung verzichten.
Ich werde zwei Beispiele genauer aufgreifen, mit denen ich in Seminaren und Workshops gute Erfahrungen gemacht habe, und dann noch weitere andeuten. Exemplarisch geht es vor allem um zwei Filme, die bis auf Weiteres als ganze auf YouTube stehen und einen niedrigschwelligen Einsatz erlauben (juristische Aspekte klammere ich zugunsten einer Fair-use-Perspektive aus). Es handelt sich nicht um typische Hollywood-Produktionen, die aus rechtlichen Gründen kaum in diesem Graubereich eines Videoportals zu finden sind, sondern um einen frühen Independent-Spielfilm der inzwischen etablierten, doch alternativen Filmemacherin Kelly Reichardt, sowie um eine eher experimentelle Dokumentation des bekannten Regisseurs Werner Herzog. Beide Filme liegen online nur auf Englisch ohne Untertitel vor. Die eher avantgardistischen Filme mögen, was ihren plot und ihren style angeht, den fragmentarischen Zugang durchaus noch erleichtern. Meine methodischen Ideen könnten jedoch problemlos auf Mainstream-Kinofilme mittels Streaming oder auf DVD erweitert werden (dann gerne niedrigschwelliger auch in Synchronisation oder mit Untertiteln).
- „Old Joy“ (USA 2006) von Kelly Reichardt umfasst eine Sequenz, in der ein road bzw. nature trip zweier habituell leicht voneinander entfremdeter alter Freunde in einer Art Urwald im Nationalpark in Oregon gipfelt. Im Verlauf der Sequenz (0:41:40-0:48:28) folgt auf die zwischenmenschliche Spannung der zwei Protagonisten ein gemeinsames Naturerleben mit kathartischer Wirkung. Diese Sequenz ist eher für Kontexte praktischer Philosophie geeignet (wie Natur, Freundschaft, Gesellschaft usw.), die jeweils in Lehrsituationen aufgegriffen werden könnten, um diese anschaulich zu vertiefen. Die darauf folgenden Filmabschnitte könnten zwecks Fortführung genutzt werden, indem zuerst (bis 0:55:28) die Natur-Kontemplation intensiviert bzw. dann die Katharsis durch eine unscheinbare Berührung zwischen Männern gendersensibel zugespitzt wird (0:55:28-1:04:06).
- Werner Herzog integriert in seine wie immer unnachahmlich überinszenierte Antarktis-Dokumentation „Encounters at the End of the World“ (USA 2008) eine Sequenz (0:25:59-0:32:54), in der Forscher:innen Weddellrobben aufsuchen, um weiblichen Meeressäugerraubtieren der Kolonie Milch abzupumpen. Herzog betont zuerst die etablierte, szientistische Sicht, für die Tiere zu unterwerfen sind und zur anthropozentrischen Grundlagenforschung dienen; dann wechselt die philosophische Perspektive auf die sich rätselhaft bewegenden und artikulierenden Tiere, indem zwei Forscher:innen von ihrer so hohen Faszination an der für Menschen so auffälligen Unterwasser-Kommunikation der Robben berichten. Das Publikum wird letztlich künstlerischer Verfremdung ausgesetzt, indem die Robben selbst more-than-human-Akteur:innen werden, denen Menschen lauschen. Es stellen sich hier u.a. Fragen der Anthropologie, Tierethik oder auch Wissenschaftstheorie.
Ein Clou der Auswahl solcher avantgardistisch geprägter Filmsequenzen besteht darin, dass es fast unmöglich ist, sie nicht auch vom Aspekt der Form her wahrzunehmen und über einzelne Inszenierungspraktiken ins Gespräch zu kommen. Es sollte ein close reading hierzu stattfinden, das diskursive und präsentative Gestaltungselemente umfasst, um das Unterrichtsmedium als solches auch zu würdigen (konzentrierte man sich ausschließlich auf den Diskurs, dann wäre, wie üblich, auch ein mehr oder weniger eindeutig argumentativer Text zu nutzen). Für solch ein Vorhaben sind Filmsequenzen zwischen eineinhalb und etwa sieben Minuten gut geeignet, die man im Ausnahmefall auch ein zweites Mal zeigen könnte, um einzelne Aspekte des Films noch genauer in den Blick und auch ins Ohr zu nehmen. Die oben genannten Sequenzen könnten in ihrer Länge also selbst – je nach Lehrkontext und thematisch relevantem Aspekt – in sich noch gekürzt werden.
Baut man so eine kleine Form in eine Lehrveranstaltung ein, dann ist die spezielle Atmosphäre, die inszeniert wird, dabei zu beachten – dazu sollte man immerhin exemplarisch auf Ton- und Bildspuren eingehen. Bei Kelly Reichardt dient ein Song der Band Yo la Tengo als Rahmung des freundschaftlichen Wald-Ausflugs. Dort dominiert die soundscape von Tieren im Off oder vom Fluss und heißen Quellen (Wasser scheint Symbol sozialer und ökologischer Verflüssigung zu sein), die stark betont wird. Kameraperspektive und Bildausschnitt sind auffällig; sie zeigen die Nähe zur Natur, Details wie Vögel oder Schnecken und prägen diesen heterotopischen Ort, indem sie mit der Grenze zwischen Innen und Außen spielen, während auch jene Freundschaft einen Grenzgang erfährt. Diese auf Achtsamkeit zielende Atmosphäre wird auf der diskursiven Ebene kontrastiv begleitet: Der eine schweigt, der andere kifft bzw. quatscht: „Sorrow is nothing than worn out joy“, oder: „Just relax!“ Exemplarisch sind all diese Aspekte für eine filmische Kontextualisierung eines philosophischen Themas aufzugreifen.
Werner Herzogs Inszenierung mündet auch in eine atmosphärische Zuspitzung: Die Musik ist zuerst fröhlich, dann überwiegt wissenschaftlicher Diskurs zu Robben und deren Milch in ihrer Funktion für die Menschen (die Bilder zeigen das Unterwerfen der Tiere). Plötzlich treten jene Robben ins Zentrum und werden zu Künstler:innen, indem ihr sound (die ausgefallenen – wie es heißt – shocks, whistles und booms, die für humane Akteur:innen eine phänomenologische aisthesis dieses Ortes formen) gewürdigt wird. Der Kommentar Herzogs zu Beginn weicht Interviewaussagen der Forscher:innen; dann hört man Artikulationen der Wedellrobben selbst – erneut als soundscape – betont auf der Tonspur. Die Kamera spielt räumlich weniger mit der Relation zwischen Innen und Außen, sondern es wird eher ein Kontrast erzeugt aus horizontaler Weite und vertikaler Tiefe. Letztere steht symbolisch für jenes phänomenologische Erleben, genauso aber für epistemische Unklarheit, die beide hier regelrecht taktil angedeutet werden.
Ich hoffe, dass an den Beispielen dieser Sequenzen verdeutlicht werden konnte, dass solche gut ausgewählten, formal und inhaltlich attraktiven Szenen ohne allzu großen zeitlichen Aufwand in Lehrveranstaltungen integriert werden können und für die Student:innen wie Dozent:innen nicht allein Abwechslung, sondern tatsächlich Anschaulichkeit in problemorientierter Hinsicht ermöglichen. Diese Einsicht beruht auf meinen Überlegungen zugunsten einer nicht zu einseitig auf den Inhalt eines Filmmediums zielenden Medienbildung. Nur eine Prämisse dieses Ansatzes liegt in der Überzeugung, dass es nicht damit getan ist, überhaupt nicht-textuelle Medien in die universitäre Lehre zu integrieren, sondern dass gerade die hohe Vielfalt audiovisueller Formate selbst anerkannt und didaktisch-methodisch in spezifischen Kontexten jeweils aspektorientiert genutzt werden sollte.
Auf all meine kompetenzorientierten Überlegungen zur Film- und Mediendidaktik, mit denen ich u.a. die Methode eines Gedanken- um die des Wahrnehmungsexperiments ergänze, kann ich an dieser Stelle nicht genauer eingehen (siehe dazu die Literaturhinweise direkt unter dem Text). Das gilt auch für die heterogenen Formate, die ich dazu passend heranziehe. Zwischen Ganzspielfilmen und Interview-Schnipseln liegt eine weite Welt audiovisueller Unterrichtsmedien. Alle, die ich neugierig gemacht habe, erhalten über den Link unten Hinweise zu filmdidaktischen Modellen und jeweils genutzten Genres.
Zu Kelly Reichardts „Old Joy“ und mehreren Naturessays Werner Herzogs liegen Aufsätze von mir vor, die jeweils von einer solchen kleinen Form der Filmsequenz ausgehen (siehe dazu weiterführend meine unten angegeben Publikationen sowie mein vollständiges Publikationsverzeichnis). Ferner finden sich Ideen zu fiktionalen sowie nonfiktionalen Kurzfilmen, Dokumentationen, Interviews, audiovisuellen Essays u.v.m., die eine anspruchsvolle, aber auch pragmatisch niedrigschwellige philosophische Filmbildung bereichern könnten. Meiner Forschungsausrichtung gemäß überwiegen aktuell in meinen Beiträgen ökologische und naturphilosophische Thematiken oder auch die Genderdimension in der Adoleszenz. Es finden sich jedoch auch Bezüge auf Filme in Kontexten von u.a. Pandemie, Medien bzw. Technik oder Clubkultur und Utopie. Darüber hinaus gibt es etwa in Alexander Kluges dctp.tv, über das ich promoviert habe, thematisch kaum etwas, was es nicht gibt – dort speziell in kürzeren Formaten seiner (Fake-)Interviews und audiovisuellen Essays. Audiovisuelle Sequenzen können allerlei Formen annehmen, das ist bekannt – der Rest bleibt in der Lehre einfach auszuprobieren!
Literatur
Wobser, Florian: „Gedanken- als Wahrnehmungsexperimente – Überlegungen zu audiovisuellen Fake-Gesprächen Alexander Kluges“, in: praefaktisch.de, 11.02.2021 [mit Bezug auf Alexander Kluges Fernseharbeiten].
Wobser, Florian: Interviews und audiovisueller Essayismus Alexander Kluges. Ein ästhetisch-performatives Bildungsprojekt und seine Relevanz für Philosophie- und Ethikunterricht (Reihe Ethik und Bildung, hg. v. R. Torkler, Berlin: Metzler/Springer 2024.
Wobser, Florian: „Theorie und Praxis des ‚Un-Möglichen‘ im Fach Ethik/Philosophie – die ‚Heterotopie‘ (am Beispiel des Technoclubs)“, in: H. Ammerer u.a. (Hg.), Utopisches und dystopisches Denken im Unterricht, Münster/New York: Waxmann (im Erscheinen) [am Beispiel der fachdidaktischen Auseinandersetzung mit heterotopischen Qualitäten von Technoclubs].
Zur Person
Florian Wobser ist Akademischer Rat a. Z. an der Universität Passau. Er lehrt und forscht speziell zu den Bereichen Bildung/Didaktik, Medien und Ökologie. In seinem aktuellen Habilitationsprojekt entwickelt er vielfältige fachdidaktische Zugänge zur Natur im Kontext des Anthropozäns.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
Kommentare? Gern veröffentlichen wir selbst sehr kurze Repliken als eigene Beiträge. Mehr dazu unter Hinweise für Beitragende.