VON SIMON WIMMER (DÜSSELDORF)
Unsere Studierenden sind zunehmend divers. Wie kann man diese Diversität anerkennen und philosophisch fruchtbar machen? Mein Seminar „Knowledge across Cultures and Languages“ zentriert sprachliche Diversität und erkundet ihre erkenntnistheoretischen Konsequenzen. In forschungsbasierten Aufgaben bauen die Studierenden dabei auf ihre eigenen sprachlichen Kompetenzen und die ihres Umfelds, um neue Perspektiven auf traditionelle erkenntnistheoretische Fragen einzunehmen.
Sprachliche Diversität im philosophischen Seminar
Parallel zur deutschen Gesellschaft sind auch unsere Seminare zunehmend divers (oder superdivers nach Aladin Mafaalani). Oft bringen Studierende verschiedene Sprachen mit oder leben in einem Umfeld, in dem verschiedene Sprachen gesprochen werden. Doch in die philosophische Lehre werden diese Sprachen kaum einbezogen. Diese findet auf Deutsch oder Englisch statt, auch zu diskutierende Texte sind in aller Regel Deutsch oder Englisch. Wo Intuitionen zur Angebrachtheit, Grammatikalität oder Wahrheit einer Aussage angeführt werden, sind dies zumeist Intuitionen zu Aussagen und Fallbeschreibungen, die in Deutsch oder Englisch formuliert sind.
Diese Verengung auf einige wenige Sprachen wird in der philosophischen Forschung seit geraumer Zeit hinterfragt und aufgehoben: Immer mehr Fachbücher (z.B. Stich et al. 2018) und -artikel (z.B. Yuan und Kim 2021) preisen sprachliche Diversität ein. Doch auch in der philosophischen Lehre hat die Verengung auf einige wenige Sprachen Konsequenzen, die Handlungsbedarf schaffen. Denn die Verengung trägt einerseits zur Marginalisierung anderer Sprachen und Sprachgemeinschaften bei. Diese werden, wenn auch nur implizit, als weniger philosophisch bedeutend als Deutsch und Englisch verbucht. Diese Marginalisierung wiederum führt dazu, dass wir diskussionswürdige Fragen, die sich aus dem Sprachschatz unserer Studierenden oder ihres Umfelds ergeben, ignorieren. Nehmen wir als Beispiel das türkische Wort für Wissen, ‚bilyor‘. Wie Deniz Özyıldız (Özyıldız 2016) dokumentiert hat, erlaubt dieses Wort Aussagen wie ‚Tunç bilyor, dass Bernie gewonnen hat‘ (Tunç Bernie kazandı diye biliyor), selbst wenn für uns fest steht, dass Bernie verloren hat. (Irmak und Baç haben bereits 2011 auf ein verwandtes Phänomen hingewiesen.) Hierin unterscheidet sich ‚bilyor‘ von gewöhnlichen Verwendungen des deutschen ‚wissen‘ und des englischen ‚know‘. Damit erfährt für Sprecher:innen des Türkischen die Frage, ob Wissen eine Wahrheitsbedingung hat, eine Wichtigkeit, die sie anhand deutscher und englischer Daten nicht erlangt.
Erkenntnistheorie sprachlich divers unterrichten
Mein Seminar für fortgeschrittene Bachelor- und Masterstudierende „Knowledge across Cultures and Languages“, das ich an der TU Dortmund erstmals im Wintersemester 2023/24 unterrichtet habe, tritt der Verengung auf zwei Sprachen und Sprachgemeinschaften entgegen. Meine Studierenden stellen in diesem Kurs traditionelle Fragen der Erkenntnistheorie: „Wann wissen wir etwas?“, „Hat Wissen eine Wahrheitsbedingung?“, „Was ist ‚knowledge-how?‘“ und „Wie unterscheiden sich Kennen und Wissen?“. Doch wir beantworten diese Fragen mithilfe von Daten aus verschiedenen Sprachen und Sprachgemeinschaften, die wir in ausgewählten Texten finden. Die Wahrheitsbedingung erörtern wir beispielsweise anhand von italienischen, türkischen und koreanischen Wissenszuschreibungen, die Dinge zulassen, die im Deutschen und Englischen nicht möglich sind (siehe oben). Ob knowledge-how auf Wissen-dass reduzierbar ist, diskutieren wir anhand französischer und russischer Daten, die sich auf interessante Weise von ihren englischen Gegenstücken unterscheiden. Und die Unterscheidung zwischen Wissen und Kennen behandeln wir in einem Gastvortrag der Sprachwissenschaftlerin Anna Sjöberg von der Universität Stockholm anhand eines korpus-basierten Überblicks über hunderte von Sprachen. Kurzum: Der Kurs zeigt Studierenden anhand der zu diskutierenden Texte und Vorträge, wie wichtig ein weites Feld sprachlicher Daten für die Erkenntnistheorie sein kann.
Diverse Kompetenzen forschungsbasiert fruchtbar machen
Um für meine Studierenden greifbar zu machen, wie gewinnbringend ihre eigenen sprachlichen Kompetenzen oder auch die sprachlichen Kompetenzen ihres Umfelds für die Philosophie sein können, beinhaltet der Kurs eine forschungsbasierte Teilnahmeleistung. Im letzten Abschnitt des Kurses arbeiten Studierende an einem eigenen Forschungsprojekt. Aufbauend auf jenen Daten, die wir aus diversen Sprachen zusammengetragen haben, sowie auf den herausgearbeiteten methodischen Herangehensweisen zu diesen Daten, erarbeiten Studierende eine Forschungsfrage, sammeln ihre eigenen Daten, entwickeln deren philosophische Relevanz in einem kurzen Essay und präsentieren die Resultate ihres Projekts schließlich als Plakat.
Da auch in einem sehr diversen Klassenzimmer natürlich nicht alle Studierenden Sprachen neben Deutsch und Englisch sprechen, steht den Studierenden beim Sammeln ihrer eigenen Daten offen, ob sie eine Sprache wählen, die sie selbst oder jemand in ihrem Umfeld spricht, eine Sprache, die in einem bestimmten Korpus vertreten ist, oder aber eine Sprache, die bereits in bestehenden Forschungsarbeiten der Sprachwissenschaft oder der experimentellen Philosophie behandelt wird. So trugen Studierende im Wintersemester 2023/24 Resultate zu einer höchst diversen Sprachgruppe zusammen. Beispielsweise präsentierten sie Poster zu Wissenszuschreibungen in Albanisch, Bosnisch, Hindi, Polnisch, Shona und Zazarisch.
Diverse Philosophie für eine diverse Öffentlichkeit
Auf lange Sicht eignet sich mein Kurs nicht nur dazu, die Diversität unserer Studierendengruppen anzuerkennen und philosophisch in der Lehre zu berücksichtigen, sondern auch dafür, Philosophie stärker in die städtische Öffentlichkeit zu tragen. Denn unsere Studierendengruppen sind zunehmend divers, gerade weil es unsere Städte sind. Dies verleiht Themen der sprachübergreifenden Verständigung große Aktualität für unsere Stadtgesellschaften. Die Resultate, die Studierende in meinem Seminar sammeln, zeigen einerseits, auf welch unterschiedliche Weisen verschiedene Sprachen und Sprachgruppen Wissen zuschreiben. Andererseits zeigen sie auch, welche Gemeinsamkeiten es sprachübergreifend gibt, und wie selbst Unterschiede oft (aber nicht immer) auf zugrundeliegende Gemeinsamkeiten zurückgeführt werden können. Diese Resultate bieten sich daher für Schaukästen in öffentlich zugänglichen Räumen an, beispielsweise dem STADT_RAUM des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte. Im Einklang mit den Zielen dieses Raums soll auch mein Seminar jenen Stimmen, die unsere Gesellschaft an den Rand drängt, Platz bieten, mit ihren Geschichten und Perspektiven Anerkennung zu finden.
Literatur
Bac, Murat, and Nurbay Irmak. ‘Knowing Wrongly’. Croatian Journal of Philosophy XI, no. 33 (2011): 305–21.
Özyıldız, Deniz. ‘Knowledge Reports without Truth’. Proceedings of the European Summer School in Logic, Language, and Information (ESSLLI), 2016, 184–96.
Stich, Stephen P., Masaharu Mizumoto, and Eric McCready, eds. Epistemology for the Rest of the World. New York: Oxford University Press, 2018. https://doi.org/10.1093/oso/9780190865085.001.0001.
Yuan, Yuan, and Minsun Kim. ‘Cross-Cultural Convergence of Knowledge Attribution in East Asia and the US’. Review of Philosophy and Psychology, 23 April 2021. https://doi.org/10.1007/s13164-021-00523-y.
Zur Person
Simon Wimmer ist seit April 2024 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Davor war er vier Jahre lang an der Professur für Theoretische Philosophie der TU Dortmund tätig. Promoviert wurde er 2020 mit einer Arbeit zur Beziehung zwischen Wissen und Glauben an der University of Warwick. Sein derzeitiger Fokus in der Lehre liegt auf kultur-, sprach- und traditionsübergreifenden Zugängen zur Erkenntnistheorie.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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