Wer spricht im Seminar? Impuls für eine inklusive Seminaratmosphäre

VON DEBORAH MÜHLEBACH (BERLIN)

Wer kennt die Situation nicht: Seminare, in denen die Gruppendiskussion zwischen ein paar wenigen aktiven Studierenden stattfindet, sich manche Studierende ab und zu der Diskussion anschließen und eine erhebliche Anzahl Studierender sich über das ganze Semester hinweg kaum oder schlichtweg gar nicht zu Wort meldet. Dies zumindest war meine Standarderfahrung während meiner eigenen Studienzeit. Ich selbst meldete mich in Seminaren nie, wenn ich nicht in der Rolle der Tutorin war. Die Ausnahmen ließen sich wohl an zwei Händen abzählen.

Aus Studierendenperspektive gibt es zahlreiche Gründe, weshalb man sich nicht an der Seminardiskussion beteiligen möchte oder kann: Desinteresse, zu wenig Anknüpfungspunkte an das eigene Leben, Angst etwas Dummes zu sagen, allgemeines Unwohlsein beim Sprechen in großen Gruppen, nicht so recht zu wissen, was die Lehrenden hören wollen (siehe dazu auch Olivia Baileys Blogeintrag für hilfreiche Hinweise dazu, wie Beiträge zu philosophischen Diskussionen aussehen können). Die Liste könnte lange weitergeführt werden. Ungeachtet der genauen Gründe dafür, weshalb Studierende sich nicht aktiv beteiligen, zeigt sich in der Praxis immer wieder ein ähnliches Bild: Je weiter das Semester und die Seminardiskussion fortschreitet, ohne dass eine Person sich je zu Wort gemeldet hat, desto größer werden die Hürden für sie, um dies doch noch zu tun.

Natürlich gibt es immer auch Studierende, die ein sehr großes Redebedürfnis haben und sich der langen Redezeit, die sie einnehmen, nicht bewusst sind. Die Kombination von Viel- und Kaumredner:innen nimmt oft eine Eigendynamik an, die schwer zu durchbrechen ist. Aber auch Studierende mit viel Gespür für die Gesamtsituation tragen diese Dynamik mit. Denn Versuche, die Seminardiskussion produktiv fortzuführen und ein Gegengewicht zu den Personen, die etwas gar viel reden, zu schaffen, tragen insofern zur Verstärkung der Gesprächsdynamik bei, als sie eher die Eigenbeteiligung erhöhen und damit den stillen Menschen zumeist nicht mehr Raum schaffen.

Verantwortung der Lehrenden

Für Lehrende ist eine solche Seminarsituation herausfordernd. Sie tragen die Verantwortung für qualitativ hochwertige Lehre, was unter anderem bedeutet, die Studierenden dort abzuholen, wo sie momentan stehen, ihnen genuine Lernerfahrungen zu ermöglichen, zentrale Inhalte zu vermitteln, die (Weiter-)Entwicklung spezifischer Fähigkeiten zu stärken und produktiven Austausch zu fördern. Bei dieser langen Liste an Anforderungen ist es nicht erstaunlich, dass es wohl der einen oder anderen Lehrperson schwerfällt, sich dabei auch noch um eine inklusive Seminaratmosphäre zu bemühen. Wie das beschriebene Seminarszenario zeigt, ist es nämlich ganz schön anspruchsvoll, eine solche herzustellen – insbesondere dann, wenn die Eigendynamik schon in vollem Gange ist. Wer von uns Lehrenden möchte schon Studierenden das Wort abschneiden, auch wenn sie die Seminardiskussion dominieren? Und wie bringt man schweigende Studierende dazu etwas zu sagen, ohne sie direkt dazu aufzufordern und somit womöglich in Verlegenheit zu bringen? Verschlechtert man damit nicht gar die Seminaratmosphäre, statt zu ihrer Verbesserung beizutragen?

Und dennoch: Eine Beteiligung möglichst aller Studierenden ist sowohl aus epistemischen und lernpsychologischen als auch aus sozialen und politischen Gründen zentral. Zum einen geht viel Wissens-, Erfahrungs- und kritisches Auseinandersetzungspotenzial verloren, wenn sich nur wenige der anwesenden und mitdenkenden Studierenden aktiv an der gemeinsamen Diskussion beteiligen. Zudem ist es für Lehrpersonen bei Nichtbeteiligung mancher Studierender kaum möglich, deren Verständnisstand einzuschätzen und gegebenenfalls die Seminardiskussion oder gar das Seminarprogramm daran auszurichten. Schweigende Studierende sind sozusagen eine Blackbox, mit der es irgendwie umzugehen gilt. Zum anderen kreiert eine stark ungleiche aktive Mitwirkung unter den Studierenden ein unausgewogenes Sozialgefüge, in dem sich manche viel besser kennen als andere. Insbesondere als Lehrperson ist es schwierig, die stillen Personen genauso stark wahrzunehmen, genauso schnell und zuverlässig ihre Namen zu kennen (siehe dazu auch David Löwensteins Beitrag) und einen genauso ungezwungenen Umgang mit ihnen zu finden wie mit den Studierenden, die sich rege am Austausch beteiligen.

Eine simple Idee mit großem Potenzial

Was also tun? Vor einigen Jahren nahm ich am MIT an einem Seminar von Sally Haslanger teil, der damaligen Zweitbetreuerin meiner Doktorarbeit. In der allerersten Sitzung fragte sie die Studierenden, ob diese sich bisher in einem Seminar schon einmal richtig wohlgefühlt hätten und falls ja, weshalb (und falls nein, weshalb nicht). Daraufhin meldeten sich einige Studierende zu Wort und gemeinsam kam eine Liste von Dingen zustande, die sich die Seminarteilnehmenden für den zukünftigen gemeinsamen Umgang miteinander wünschten. In diesem Seminar zeigte sich: Dies ist eine einfache Frage, die potenziell Vieles verändert.

Seit dieser Erfahrung verwende ich immer mindestens eine Stunde der ersten Seminarsitzung darauf, mich gemeinsam mit den Studierenden genau dieser Frage zu widmen. Ich steige mit ihr ein und fordere alle Studierenden dazu auf, sich der Nachbarsperson vorzustellen und gemeinsam während fünf Minuten über diese Frage zu sprechen. Für Erstsemestrige ohne Seminarerfahrung könnte die Frage lauten, was in der heutigen Seminarsitzung dazu beitragen könnte, dass sie sich wohlfühlen. Im Anschluss an das Gespräch im kleinen Rahmen bitte ich jeweils jede einzelne Person (der Reihe nach), den anderen Seminarteilnehmenden zu sagen, was sie sich für diesen spezifischen Seminarraum wünscht, um sich willkommen und wohl zu fühlen. Zugleich schreibe ich zu jeder Meldung ein Stichwort an die Tafel. Diese Stichwortliste verändern wir gegebenenfalls am Ende noch und segnen sie dann als gemeinsam erarbeiteten Leitfaden für unser Seminarverhalten ab. Ein Foto davon lade ich jeweils bei unserer Lernplattform hoch.

Gamechanger, bevor das Spiel überhaupt angefangen hat

Meine Version weicht etwas von derjenigen ab, die ich bei Sally Haslanger erlebt hatte. Sie beinhaltet Elemente, die den weiteren Gesprächsverlauf über das gesamte Semester hinweg maßgeblich formen. Zum einen tauschen sich die Studierenden in dieser neuen Seminarsituation zunächst mit der Nachbarsperson aus und lernen somit auf eine sehr persönliche Weise eine:n ihrer Mitstudierenden kennen. Der Austausch zu zweit erleichtert das Sprechen in der großen Gruppe danach. Wenn sich anschließend restlos alle Studierenden in der großen Runde dazu äußern, was sie sich von der Gruppe als Rahmen für die Seminardiskussion wünschen, werden damit mehrere Ziele auf einmal verfolgt: Der Akt des Sprechens in der allerersten Sitzung und dass man sich dabei selbst in der Gruppe sprechen hört, bricht für stille Personen das Eis und mindert die Hürden für spätere Wortmeldungen. Zudem führt der Austausch dazu, dass sich die Studierenden von Beginn an als ganze Personen begegnen und auf eine Weise miteinander sprechen, die noch nicht von der stereotypischen und einschüchternden Vorstellung geprägt ist, dass man für eine Wortmeldung einen philosophisch brillanten und äußerst durchdachten intellektuellen Wortbeitrag leisten muss, um Teil der Diskussion sein zu können.

Diese Austauschrunde und die darin gemeinsam entwickelten Leitlinien führen dazu, dass sich alle Beteiligten stärker für den gemeinsamen Seminarraum verantwortlich fühlen, als dies sonst der Fall wäre. Bottom-up-Leitlinien fühlen sich meist verbindlicher an als Top-down-Vorgaben. Ein Stück weit mindert dies auch die Verantwortungslast der Lehrenden und es ermöglicht ihnen, sich auf die gemeinsamen Ideen der Austauschrunde zu berufen, wenn sie Tendenzen zu unguten Dynamiken wie der eingangs beschriebenen feststellen.

Ist dies also eine äußerst einfache Lösung für ein ziemlich komplexes Problem? Ja und nein. Die Eingangsfrage und der dazugehörige Austausch verändern tatsächlich auf einen Schlag die Seminaratmosphäre. Allerdings geschieht dies nur dann, wenn sie mit großer Sensibilität seitens der Lehrenden angeleitet werden. Schließlich fordert man alle Teilnehmenden aktiv dazu auf, sich persönlich zu äußern, und so entsteht schnell ein sehr offenes und damit potenziell verletzlich machendes Gespräch. Dies erfordert von Lehrpersonen hohe Sozialkompetenzen, um diesen verletzlichen Austauschraum halten zu können. Dazu gehört aktiv zuzuhören, Beiträge zu reformulieren, einzuordnen und mit anderen Beiträgen in Verbindung zu bringen, Äußerungen unsicher wirkender Studierender auf lockere Weise zu bestärken und dies alles auf eine möglichst willkommen heißende und humorvolle Art zu tun.

Wer sich als Lehrperson nicht wohl genug fühlt mit dieser Art der Gesprächsleitung, kann sicherlich dennoch die eine oder andere Idee mitnehmen. Zum Beispiel, dass gemeinsam erarbeitete Leitlinien wirksamer sind als vorgegebene. Diese lassen sich durchaus in weniger verletzlicherem Rahmen erarbeiten, etwa, wenn man wie Sally Haslanger die Frage offen an die Gesamtrunde stellt und dabei hofft, dass sich möglichst viele Personen melden.


Zur Person

Deborah Mühlebach ist Postdoc an der FU Berlin und ab April 2025 Leiterin der Emmy Noether Nachwuchsforschungsgruppe Critical Agency. Ihre Interessen liegen in der feministisch und critical race informierten theoretischen Philosophie und in der Förderung diskriminierungsarmen Umgangs miteinander. Sie ist Co-Leiterin der Politically Engaged Philosophy (PEP) Work-in-progress-Gruppe, Co-Gründerin und Co-Leiterin des Bystander Trainings für akademische Räume und war 2024 Co-Host des Podcasts „mitgedacht“.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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