Chinesische Philosophie – Erweiterung von Kanon und Prüfungsform

VON ANJA BERNINGER (GILCHING)

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themenschwerpunkts „Diversität in der philosophischen Lehre”.

In diesem Blog-Beitrag will ich ein kleines Lehrexperiment schildern, das ich bereits vor einigen Jahren im Rahmen meiner Lehrveranstaltung zur Einführung in die chinesische Philosophie im BA-Studium an der Universität Stuttgart durchgeführt habe.

Ausgangslage und Problembeschreibung

An vielen deutschen Universitäten gibt es Bestrebungen, den tradierten philosophischen Kanon durch Integration von Texten aus anderen Traditionslinien (wie etwa der chinesischen oder indischen Philosophie) zu ergänzen. Auch ich habe in der Vergangenheit immer wieder Seminare zur klassischen chinesischen Philosophie angeboten. Diese Kurse waren meiner Erfahrung nach bei Studierenden sehr beliebt. Die Bereitschaft, sich mit den Primärtexten auseinanderzusetzen, war hoch, die Seminardiskussionen verliefen oft lebhaft und das Feedback zu den Kursen fiel durchweg sehr positiv aus.

Es gibt zudem einige sehr gute Textsammlungen und einführende Werke, die den Einstieg in die Auseinandersetzung mit der klassischen chinesischen Philosophie erleichtern und auf die ich in meinen Seminaren immer wieder zurückgriff. Zu nennen ist hier etwa der von Philip Ivanhoe und Bryan Van Norden herausgegebene Band „Readings in Classical Chinese Philosophy“, Jeeloo Lius Einführung „Chinese Philosophy: From Ancient Philosophy to Chinese Buddhism“ sowie „Klassische chinesische Philosophie: Eine Einführung“ von Hubert Schleichert und Heiner Roetz.

Obwohl die Studierenden offenkundig engagiert und motiviert waren, war die Qualität der Hausarbeiten schwankend. Daran änderte auch die erwähnte sehr gute Sekundärliteratur nichts. Ein wesentlicher „Fehler“, den ich immer wieder beobachtete, war, dass die Studierenden in ihren Arbeiten sehr stark auf die historischen Umstände eingingen, unter denen die Primärtexte entstanden waren. Die eigentliche philosophische Analyse dieser Texte blieb dann im Gegensatz dazu häufig sehr kursorisch.

Dieses Problem ist natürlich nicht auf die Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie beschränkt. Vermutlich ist es allen Lehrenden bekannt, die in ihren Seminaren mit historischen Texten arbeiten. So berichteten mir auch Kolleg:innen in der Vergangenheit immer wieder, dass Studierende in ihren Arbeiten häufig lange biographische oder allgemein historische Abschnitte integrierten, statt sofort mit einer philosophischen Betrachtung der Primärtexte zu beginnen. Es scheint sich also um ein gängiges Problem gerade in den ersten Semestern des Studiums zu handeln.

Über die Gründe dafür, dass sich dieses Vorgehen so hartnäckig hält, lässt sich nur spekulieren. Die Fähigkeit, wissenschaftliche Texte zu schreiben, wird nicht von einem Tag auf den anderen erworben. Vielmehr ist es ein längerer Prozess, der durch Fortschritte, aber auch durch gelegentliche Rückschritte gekennzeichnet ist. In der Literatur zum Erwerb von Schreibkompetenzen wird vielfach zwischen Knowledge Telling und Knowledge Crafting unterschieden (siehe dazu Lotte Rienecker und Peter Stray Jørgensen 2018). Knowledge Telling sind solche Texte, in denen der oder die Schreibende die Leser:innen über das informiert, was er oder sie zu einem Thema weiß. Knowledge Crafting hingegen sind solche Texte, in denen Wissen nicht nur wiedergegeben, sondern auf ein Thema oder eine Problemstellung hin geordnet und angewandt wird. Solche Texte sind also zumindest in einem eingeschränkten Sinne auf einen Erkenntnisgewinn hin ausgerichtet. Diese zweite Form der schriftlichen Auseinandersetzung ist deutlich komplexer und folgt in der Entwicklung von Schreibkompetenzen meist auf den Erwerb der Fähigkeit zum Knowledge Telling.

Auch wenn schon in der Schule beide Formen von Texten eine Rolle spielen, so haben doch nicht alle Studierenden bereits zu Studienbeginn den Schritt von Knowledge Telling zum Knowledge Crafting vollzogen. Zudem sind sie häufig in den ersten Semestern mit neuen Herausforderungen beim Schreiben konfrontiert. Sie müssen sehr viel mehr Material in deutlich kürzerer Zeit und (meist) mit weniger Hilfestellung verarbeiten als zu Schulzeiten. So betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass manche angesichts dieser neuen Herausforderungen unbewusst auf Modelle des Schreibens zurückfallen, die ihnen vertrauter erscheinen als das Knowledge Crafting.

Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit in gewisser Weise fremden philosophischen Traditionslinien tritt diese Tendenz möglicherweise sogar noch verschärft auf. Das hat (nach meiner Vermutung) auch damit zu tun, dass viele Einführungen in die chinesische Philosophie ebenfalls mit einer umfassenden Darstellung der historischen Situation beginnen. Ein minimales historisches Wissen wird hier als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit den fraglichen Texten verstanden. Es ist einleuchtend, dass das wiederholte Lesen solcher Darstellungen und historischer Abrisse auch auf die Hausarbeiten abfärbt. Zudem handelt es sich dabei ja tatsächlich um wichtiges Wissen, das die Studierenden im Rahmen des Semesters erworben haben. Dementsprechend ist es nachvollziehbar, dass sie dieses im Rahmen eines (implizit) als Knowledge Telling begriffenen Textes auch darstellen wollen.

Lösungsansatz: Alternativtexte zu Hausarbeiten

Vor dem Hintergrund dieser Problemlage habe ich in meinem Einführungsseminar ein Experiment mit einer alternativen Textform als möglicher Prüfungsleistung gestartet. Dabei habe ich versucht, eine Aufgabenstellung zu entwickeln, die zu den im Seminar gelesenen Primärtexten passte und die Studierenden zum Nachdenken über diese konkreten Texte anregen sollte. Zudem sollte die Aufgabe die Studierenden von der bloßen Wiedergabe historischer Fakten abhalten, aber dennoch die Besonderheiten der klassischen chinesischen Philosophie in irgendeiner Form berücksichtigen.

Eine in der wissenschaftlichen Literatur zur klassischen chinesischen Philosophie vielfach erwähnte Auffälligkeit ist die starke Ausprägung des Denkens in Schulen. Konfuzius, Menzius und Xunzi etwa werden alle dem Konfuzianismus zugeordnet, während Laozi und Zhuangzi als Vertreter des Daoismus verstanden werden. Damit einher geht die Vorstellung, dass bestimmte Traditionslinien des Denkens von nachgeborenen Philosoph:innen fortgesetzt werden, ohne dass diese die ursprünglichen Überlegungen „ihrer“ Schule einfach nur wiederholten. So vertreten zum Beispiel Xunzi und Menzius dezidiert andere Meinungen hinsichtlich der Beschaffenheit der menschlichen Natur. Beide entwickeln ihre Positionen jedoch aus Überlegungen, die sich in früheren konfuzianischen Texten finden und nun von diesen Autoren weiter ausgeführt, in eine größere Theoriebildung eingebettet und argumentativ untermauert werden.

Im Rahmen des Seminars wollte ich die Studierenden unter anderem dafür sensibilisieren, wie vielfältig die unterschiedlichen Positionierungen innerhalb der Traditionslinien sind. Dementsprechend stellte ich genau diesen Aspekt bei meinem „alternativen Arbeitsauftrag“ für die Prüfungsleistungen in den Mittelpunkt. Die Studierenden sollten zwei Texte verfassen: erstens einen Text von etwa fünfzehn Seiten, in dem sie eine der im Seminar besprochenen philosophischen Traditionslinien fortsetzten. Sie sollten sich also zum Beispiel als Daoist:innen begreifen und in ihrem Text diese Traditionslinie fortführen. Dabei sollten sie die jeweilige Philosophie „weiterdenken“ und -schreiben. Um das erfolgreich zu tun, mussten sie sich Gedanken um folgende Fragen machen: Wie schreibt denn ein:e Daoist:in im 21. Jahrhundert? Welche Themen interessieren sie oder ihn? Welche stilistischen Entscheidungen werden getroffen? Welche Argumentationsformen finden hier Anwendung? Welche Arten von Evidenzen werden zum Beleg einer These herangezogen?

Zweitens sollten die Studierenden einen metareflexiven Text von fünf bis zehn Seiten verfassen. Dabei sollten sie erklären, wie sie beim Schreiben des ersten Textes vorgegangen waren. Dazu gehörten auch die Darstellung und Begründung der getroffenen inhaltlichen, argumentativen und stilistischen Entscheidungen.

Weil viele Texte der frühen chinesischen Philosophie Kompilationen sind, an deren Entstehung vermutlich mehrere Autor:innen mitgewirkt haben, wollte ich auch diesen Aspekt in meinem alternativen Prüfungsformat aufgreifen. Deshalb sollten die Studierenden den Arbeitsauftrag nicht allein bearbeiten, sondern ihn vielmehr als Gruppe ausführen. Dieser Gruppenprozess und die unterschiedlichen Arbeitsanteile sollten ebenfalls in der Metareflexion dargestellt werden.

Wegen des experimentellen Charakters dieser alternativen Prüfungsleistung stellte ich den Studierenden frei, ob sie diesen Arbeitsauftrag bearbeiten oder eine klassische Hausarbeit abfassen wollten. Zu meiner Überraschung entschied sich nur eine einzige Gruppe für das alternative Prüfungsformat. Die Arbeit, die diese einreichte, war qualitativ sehr gut und mit sichtlichem Spaß an der Sache geschrieben worden. Die Metareflexion ließ auf eine intensive Gruppendiskussion und eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Primärtexten schließen. Natürlich kann das darauf zurückzuführen sein, dass sich einfach sehr gute und engagierte Studierende hier zusammengefunden hatten. Man kann also keinesfalls schlussfolgern, dass das gute Ergebnis hier primär auf den Arbeitsauftrag zurückzuführen war.[1]

Implikationen für andere Lehrveranstaltungen

Was folgt aus diesem kleinen Lehrexperiment nun für andere Seminare? Ich würde das Ergebnis zumindest als ein Signal dafür verstehen, dass alternative Prüfungsformate funktionieren können und dass sie nicht zu einer Herabstufung der Ansprüche führen müssen. So war in dem von mir durchgeführten Experiment die Aufgabe keineswegs einfacher zu bewältigen als das Abfassen einer klassischen Hausarbeit.

Natürlich ist es wichtig, dass Studierende im Rahmen eines Philosophiestudiums eine Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten erhalten. Dementsprechend plädiere ich nicht dafür, ihnen immer solche alternativen Prüfungsformate anzubieten. Genauso wichtig ist aber, dass die Studierenden philosophisches Denken erlernen. Und dafür scheint mir die Hausarbeit nicht zwangsläufig immer das beste Format zu sein. Vielmehr können andere Prüfungsformate unterschiedliche Formen philosophischen Denkens genauso gut oder vielleicht sogar mitunter besser schulen als traditionelle Hausarbeiten.

Wie eingangs bereits erklärt, stellen Hausarbeiten sehr vielfältige Anforderungen an Studierende. Sie müssen Positionen selbst durchdenken und schildern, aber auch die Literatur zu einem Thema zumindest zu Teilen kennen und in ihren Text einfließen lassen. Sie müssen Fußnoten richtig setzen und formatieren. All das ist wichtig, aber auch anspruchsvoll und kann (gerade zu Beginn des Studiums) überfordern, auch weil sehr viele dieser Kompetenten in recht kurzer Zeit erworben werden müssen.

Das von mir vorgeschlagene Prüfungsformat greift einige, aber eben nicht alle dieser Kompetenzen auf. Die Studierenden mussten eigene Argumente entwickeln, sie mussten die Positionen der einzelnen Philosoph:innen kennen und selbstständig durchdacht haben. Zugleich mussten sie aber auch noch eine weitere Kompetenz unter Beweis stellen, die in klassischen Hausarbeiten typischerweise nicht oder nur am Rande einfließt. So mussten sie im Rahmen des metareflexiven Textes über ihr eigenes Schreiben nachdenken und ihr Vorgehen begründen. Gerade solche metareflexiven Texte scheinen mir ein geeignetes Mittel, um die eigenen Schreibkompetenzen und das eigene Denken weiterzuentwickeln. So lernt man hier, die eigenen textbezogenen Entscheidungen zu hinterfragen und über Alternativen nachzudenken. Und auch das scheint mir eine wichtige philosophische Kompetenz zu sein.

Insgesamt scheint es mir also sinnvoll, den philosophischen Kanon in mehreren Hinsichten zu erweitern: erstens dadurch, dass man bislang marginalisierte Autor:innen und Traditionslinien stärker berücksichtigt und zweitens dadurch, dass man auch die Gruppe der etablierten Prüfungsformen nach und nach in sinnvoller und anspruchsvoller Art und Weise erweitert. Tatsächlich wäre das hier betrachtete Prüfungsformat auch für andere philosophische Strömungen denkbar. Vorstellbar wäre etwa eine Fortführung der Existenzialphilosophie oder verschiedener antiker Denktraditionen. Entscheidend wäre in jedem Fall auch hier, die Studierenden dazu zu ermutigen, ihren Arbeitsprozess und ihre textuellen Entscheidungen wiederum schriftlich zu reflektieren. Zudem sollte man solche alternativen Prüfungsformate als Ergänzungen und nicht als Ersatz für die klassische Hausarbeit begreifen.


[1] Die relativ knappe Seitenzahl der alternativen Prüfungsform mag überraschen. Prüfungsrechtlich wurde dies durch umfangreiche Vorarbeiten im Laufe des Semesters in Form von einzureichenden Fragebögen und Leseprotokollen ermöglicht.


Literatur

Philip J. Ivanhoe und Bryan Van Norden (Hrsg.), Readings in Classical Chinese Philosophy, Indianapolis/Cambridge: Hackett Publishing 2023.

Jeeloo Liu, An Introduction to Chinese Philosophy: From Ancient Philosophy to Chinese Buddhism, Oxford: Blackwell 2006.

Lotte Rienecker und Peter Stray Jørgensen, The Good Paper. A Handbook for Writing Papers in Higher Education, Frederiksberg: Samfundslitteratur 2018.

Hubert Schleichert und Heiner Roetz, Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung, Frankfurt am Main: Klostermann 2021.


Zur Person

Anja Berninger unterrichtet Ethik an der Medizinischen Akademie Gilching und bietet freiberuflich Seminare zum wissenschaftlichen und kreativen Schreiben an. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Stuttgart und der Georg-August-Universität Göttingen tätig.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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