VON FLORIAN WOBSER (PASSAU)
Als Mittelbau-Vertreter sitze ich in sehr vielen Gremien, niemals jedoch in starren Reihen. Betrete ich einen x-beliebigen Seminarraum, stehen aber fast immer alle Tische so, dass sich die Teilnehmer:innen nicht ansehen können. Ironischerweise nehmen viele Kolleg:innen (ebenso Student:innen) diesen Umstand nicht als Missstand wahr – warum sollten die Tische trotzdem dringend umgestellt werden?
Jede:r kennt wohl die Situation, dass sich erste oder insgesamt wenige Teilnehmer:innen einer Veranstaltung in hintere Reihen setzen, um die Distanz zu der Lehrperson vorne zu maximieren. Der Effekt, nicht bloß im Vorlesungs-, auch im Seminarraum, mag viele sozial(psychologisch)e Gründe haben; einer ist mutmaßlich die Absicht, nicht zu sehr in den Fokus geraten zu wollen, sich situativ entziehen zu können, sich berieseln zu lassen, zuzuhören anstatt mitzuwirken. Man muss aber kein Fachdidaktiker sein, um einen hohen Grad an Interaktion insbesondere in Philosophieseminaren – Vorlesungen, ein traditionelles Lehrformat, haben eigene Regeln –als wertvolles Ziel gutzuheißen. Man muss nicht Foucault oder andere Machttheoretiker:innen gelesen haben, um zu verstehen, dass jede Anordnung von Tischen etwas u.a. mit der erwartbaren Verteilung der Redeanteile macht und die für den offenen Diskurs wünschenswerte eher horizontale Gestaltung eines Lehrformats mitprägt.
In den meisten Seminarräumen meiner Universität stehen Tische so starr in Reihen neben- und hintereinander, dass mir – in nur leichter leibphänomenologischer Übertreibung – fast die Luft zum Atmen wegbleibt. Bin ich einmal frühzeitig vor Ort, betreten erste Student:innen den Raum und schlängeln sich erfahren und geschickt durch diese Reihen, um die (vor-)letzte zu erreichen und dort Platz zu nehmen. Sehr viele unter ihnen bevorzugen die Zentralperspektive. Sie sitzen dann frontal zur Tafel und zur Projektionsfläche und warten darauf, dass „vorne“ etwas passiert. Diese – wie man sagen könnte – Form der Selbstdisziplinierung sind sie offenbar gewohnt.
So eine Haltung ist sogar funktional, wenn das Seminar eigentlich eine verkappte Vorlesung ist, bei der zu 90% die Dozent:in spricht oder aber (eine noch immer sehr beliebte Abwandlung) zu 80% eine Referent:in an deren Stelle. In beiden Varianten sprechen die anderen anwesenden Personen kaum (und vor allem kaum miteinander). Wichtig ist aber die Präsentation, auf der das steht, was im Anschluss auswendig gelernt werden sollte. Wird diese hochgeladen und an alle verteilt, erübrigt sich die Anwesenheit fast (aber sie „macht“ sich doch besser).
Das klingt für viele vielleicht zu polemisch, aber es wäre zu prüfen, wie oft die Gestaltung von Seminaren dieser Darstellung gleicht. Es ist mir an meiner bayerischen Universität, an der auf Initiative der Mittelbauvertretung hin der Vorschlag entwickelt wurde, die starren Tischreihen grundsätzlich umzustellen, von mehreren Fachschaftsvertreter:innen und Kolleg:innen zu Ohren gekommen, dass man Nackenschmerzen befürchte, wenn man nicht länger so starr, frontal, zentralperspektivisch zur Projektionsfläche sitzen würde (es gibt ebenso Kolleg:innen, die eine solche Angst vor körperlichen Schmerzen für einen schlechten Scherz hielten – aber dieser Zusammenhang ist 😉 komplett ironiefrei).
Warum ist der hohe Grad an Interaktion überhaupt wichtig? Nicht nur, weil es lernpsychologisch längst eine Binse ist, dass Lernprozesse, die eigenständig ausgeführt bzw. mitgestaltet werden, die vertiefteren sind; nicht nur, weil vermeintlich „weiche“ Faktoren wie Blickkontakt zwischen den Teilnehmer:innen eine Anerkennung der jeweils anderen ist und den kritischen Austausch miteinander fördern dürften (was in Gremien – s.o. – offenkundig ganz selbstverständlich ist); nicht nur, weil es für Lehrende anstrengend und öde ist, die ganze Zeit selbst zu sprechen, sondern vor allem, weil frontale Wissensvermittlung nur in wenigen Fällen gelungene Impulse für kompetenzorientierte philosophische Bildungsprozesse liefert.
In dieser elementaren Hinsicht sollte es eine untergeordnete Rolle spielen, ob wir uns in einer Schule oder Hochschule befinden; ob es um Ausbildung von Student:innen des Lehramts oder anderer Studiengänge geht. An der Hochschule sollte Philosophieren als Kulturtechnik begriffen werden, die mehr ist, als sich berieseln zu lassen, viele Informationen zu bekommen, bloß nachzufragen, später all das auswendig zu lernen sowie in langweiligen, wenig geeigneten Prüfungsformaten zum Abschluss eines Seminars in Ankreuzklausuren wiederzugeben. Letzteres führt dazu, dass sich viele Student:innen insgeheim zu Tode langweilen, wofür in erster Linie Dozent:innen die Verantwortung tragen, und das ist eigentlich auch (fast) allen klar… Der anfangs erwähnte, oft eingespielte Habitus, sich in den letzten Reihen zu platzieren, sollte sich für alle Studierenden ändern. Nicht nur Lehramts-Studierende begegnen später im Beruf anderen Menschen, mit denen sie umgehen können müssen. Und das geht nicht auf Distanz. Auch aus diesem Grund wird die Unterstützung der Dozent:innen in dieser nur scheinbar beiläufigen Sache benötigt.
Daher sollte es am besten keine typische „letzte Reihe“ geben, sondern vielleicht eher ein „U“, dessen Innenraum man bei Bedarf noch mit weiteren Tischen auffüllen kann. Dann hätten kleine Gruppen bessere didaktische und methodische Möglichkeiten, aber auch größere Gruppen könnten diese Konstellation im Seminarraum nutzen. Es sind selbstverständlich situativ bessere Lösungen erwünscht – keine wird perfekt sein, niemals werden sich alle sehr gut sehen können, dieser Aspekt sollte jedoch gewürdigt werden. Dazu noch ein letzter Punkt, der vielleicht etwas konservativ, verstaubt wirkt, aber: Es ist ebenso eine Frage der Höflichkeit, es den Student:innen nicht zu leicht zu machen oder es anderen wiederum abzunötigen, sich in den Rücken der anderen Kommiliton:innen setzen zu können bzw. zu müssen.
Sämtliche Anstrengungen dieses Blogs zur Hochschuldidaktik zur Verbesserung der Lehre sind begrüßenswert. Das Anliegen dieses kompakten Essays in der Blog-Kategorie Reflexion soll lediglich darin liegen (das kann sogar als philosophische Tugend gelten), das nur scheinbar Selbstverständliche am Beispiel der Sitzordnung auch hochschuldidaktisch in Frage zu stellen. Wenige mögen überrascht sein, weil an ihrer Universität längst niemand mehr in Reihen sitzt; ich persönlich dagegen habe in den letzten Jahren sehr viele Hochschulen, auch pädagogische, von innen gesehen (zuvor wiederum einige Schulen), habe jeweils auf diesen Aspekt geachtet und bin in dieser Hinsicht sehr häufig bestätigt bzw. enttäuscht worden.
LehrGut ist auch deshalb begrüßenswert, weil viele Beiträge in den meisten Kategorien wohl Ideen für philosophische Interaktion in kompetenzorientierten Hinsichten einbringen werden. Jeder Schritt in diese Richtung zählt – auch das Umstellen der Tische in vielen Seminarräumen. Stellte man sie im didaktisch begründeten Sinne um, wäre dies eine Aufwertung guter Lehre, die so mit einfachen Mitteln immerhin etwas eher gelingt (bislang dagegen oft von der im Vergleich oft zu sehr dominierenden Forschungsorientierung erdrückt wird). Nicht nur gute Forschung, auch gute Lehre sind wichtig und komplex, also nutzen wir für diese immerhin die schlichtesten Mittel, um sie Schritt für Schritt etwas zu verbessern. Stellte man die Tische um, wäre klar, dass nicht die Person, die vorne steht, am wichtigsten ist, sondern jedes Seminar eine Gemeinschaft – community of inquiry – umfasst und dass gezielte, reflektierte Beiträge möglichst aller mit einfachen Mitteln zu motivieren sind. Nebenbei würde auch klar, dass jenes Auswendiglernen so boring ist und dass grundsätzlich Formate kompetenzorientierter Leistungsüberprüfungen noch stärker gefördert werden sollten.
Das Umstellen der Tische wäre sehr oft sogar kostenneutral zu haben. In manchen Räumen geht vielleicht der ein oder andere Sitzplatz verloren; andere Räume sind etwa nicht für das „U“ geeignet (weil sie generell nicht für Lehre geeignet sind). Das Verbessern kompetenzorientierter Lehre im Ganzen dagegen wäre sehr teuer, weil es eine ganz andere Ausbildung für Lehre voraussetzte (viele Angebote sind jedoch schon da!), und sehr oft ebenso ein anderes quantitatives Verhältnis zwischen Dozent:innen und Student:innen, weil verbesserte Prüfungsformate höhere Betreuung durch Dozent:innen voraussetzen als etwa jene Ankreuzklausuren, die Maschinen auswerten. Alles sollte horizontaler, dialogischer werden – auch in Form von Vor- und Nachbesprechungen. Abschlussleistungen werden – mindestens im Kleinen – auch durch eine dialogische Betreuung besser, deren Grundprinzip sich auch in den Lehrveranstaltungen bereits gezeigt haben sollte. Die Noten dürfen nicht mehr nur „verbucht“ werden (das ist in meinem Umfeld der grässlichste Ausdruck der Bologna-Reformen).
Also stellen wir doch der Einfachheit halber zunächst einmal nur die Tische um! Warum jedoch strebt meiner Erfahrung nach (es mag hier nicht nur ein didaktisches Nord-Süd-Gefälle geben) nur eine Minderheit eine dauerhafte Verbesserung der geschilderten Situation an? Es ist einerseits ein großes Rätsel, andererseits ist es nicht nur bildungspolitisch, institutionell oder psychologisch zu erklären, sondern es hat auch didaktische Gründe! Widerstände gegen eine solche Initiative gehen offenbar schließlich über die formalistischen Gründe der Verwaltung weit hinaus.
Wir berühren hier wieder jenes Phänomen des hochschuldidaktischen Mangels, der auch diesen Blog in einem wesentlichen Maß motiviert und in seinen Zielen legitimiert: Man sollte als Dozent:in nicht nur ein Interesse an all den jungen Menschen haben, die in den eigenen Seminaren sitzen, sondern man benötigt für Dialoge mit ihnen, für eine gemeinsame, einem Thema gewidmete Unterhaltung und deren Moderation sowie für sinnvolle Impulse, ebenso all die notwendigen didaktisch-methodischen Mittel. Gute Lehre ist genauso komplex und schwierig, wie etwa einen Aufsatz zu publizieren. Dass Dozent:innen auf gute Lehre Lust haben, ist aber alles andere als selbstverständlich. Es ist (nur) in dieser Hinsicht auch deutlich einfacher, eine Vorlesung zu halten oder Referate halten zu lassen. Die Varianten der Abwehr dieses Umstands sind vielgestaltig.
Natürlich sollte man diejenigen nicht vergessen, deren Abwehr geringer ausfällt und die ganz pragmatische Wege der Verbesserung finden. Manche wollen hingegen erstens eine Art Maximallösung – jeder Seminarraum soll didaktisches Labor werden (und so lange dieses illusorische Ziel offen bleibt, passiert nix). Manche, darunter oft eher empirisch Gestimmte, wollen zweitens jede Erfahrung, jede alltägliche Intuition (etwa, dass Blickkontakt, wie auch in Gremien, zum guten Ton einer Interaktion zählt) zuerst durch Studien belegt haben – und gibt es diese nicht (oder sprechen quantitative Ergebnisse nicht dafür), bleiben die Tische vorerst stehen. Beide nehmen gerne pragmatische Selbstwidersprüche in Kauf: So ein „U“ tut doch niemandem weh, selbst wenn die Vorteile empirisch nicht abgesichert sind – man könnte es ja ohnehin aufbauen. Auch Wissensvermittlung geht schließlich im „U“. Aber nein, so bleibt einfach alles so, wie es immer schon war – und, ach ja, die Gefahr der Nackenschmerzen.
Drittens haben meiner Vermutung nach viele Kolleg:innen jenes Interesse an jungen Menschen und an ihren Perspektiven nur bedingt. Forschung ist anstrengend genug und wichtiger! So wie Lehramtsausbildung oft das (noch) größere Übel ist, ist die Lehre etwas, was man machen muss – Forschung darf man machen. Das gilt nicht generell. Aber viele interessiert gute Lehre nicht. Also bleiben auch die Tische stehen. Seitens vieler Student:innen sieht es überwiegend anders aus – wie dankbar sind diese letztlich doch, sobald eine sinnvolle Interaktion durch didaktisch-methodische Mittel möglich wird. Wie häufig erleben diese es (habe auch ich es schon im eigenen Studium erlebt), dass über ihre Köpfe hinwegreferiert wird. Viele abstrakte, distanziert bleibende Gegenstände stürzen dann als Ausdruck des ohnehin gesellschaftlich immer krasseren information overload auf sie ein. Bildungsprozesse an den Hochschulen werden dadurch nicht exemplarisch, nicht konkret, vielmehr beschränkt sich alles bloß noch darauf, überhaupt irgendwie ansatzweise damit klarzukommen.
Dass sich viele nach hinten setzen (und es vielen egal ist), kann, nicht nur, aber auch, ein Ausdruck schlechter Lehre sein. Insofern wäre ein die Interaktion förderndes Umstellen der Tische nicht nur, aber auch, ein wünschenswerter symbolischer Akt – lasst uns einfach die Tische umstellen!
Zur Person
Dr. Florian Wobser ist Akademischer Rat a. Z. an der Universität Passau und lehrt wie forscht speziell zu den Bereichen Bildung/Didaktik, Medien und Ökologie. In seiner aktuellen Habilitation entwickelt er vielfältige fachdidaktische Zugänge zur Natur im Kontext des Anthropozäns.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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