Den Kanon diversifizieren! – Beispiele aus Japan

VON PAULUS KAUFMANN (MÜNCHEN)

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des „Themenschwerpunkts Diversität”. Alle Beiträge zum Schwerpunkt sind hier zu finden.

Der Ruf danach, den philosophischen Kanon in verschiedenen Hinsichten zu diversifizieren (mehr Frauen!, mehr prekäre Perspektiven!, mehr kulturelle Vielfalt!) wird erfreulicherweise immer lauter. Aber auch wenn man diesem Ruf folgen möchte, ist es nicht immer leicht, geeignete Texte zu finden. Mit dem folgenden Kursprogramm möchte ich einen kleinen Beitrag zur Behebung dieser Schwierigkeit leisten.

In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder Veranstaltungen zur Einführung in die japanische Geistesgeschichte angeboten. Dabei haben sich einige Texte als besonders geeignet für Diskussionen und zur Veranschaulichung spezifischer Themen der japanischen Philosophie herausgestellt. Einige dieser Texte möchte ich hier aufführen und jeweils auch Sekundärquellen angeben, die dabei helfen, den Text in seinen geschichtlichen Kontext einzuordnen. Vermutlich werden die wenigsten das Seminar als Ganzes übernehmen. Die Texte können aber natürlich auch einzeln herausgegriffen und in andere Unterrichtseinheiten (zur Sprachphilosophie, Ethik, politischen Philosophie, Ästhetik, Wissenschaftstheorie etc.) integriert werden. 

Adaption fremden Denkens

Die Reichschronik Nihonshoki aus dem Jahr 720 berichtet, wie zunächst der Konfuzianismus und dann der Buddhismus nach Japan importiert wurden. Die Darstellung ist zwar historisch weitgehend falsch, zeigt aber dennoch in narrativer Umformulierung auf, unter welchen Umständen fremde Denktraditionen in Japan adaptiert wurden. Der Text macht zum Beispiel deutlich, dass sowohl das konfuzianische als auch das buddhistische Denken von der politischen Elite (mit Migrationshintergrund) eingeführt wurden. Darin unterscheidet sich die Situation in Japan wesentlich von derjenigen in China, Korea oder Indien. Die entsprechenden Textpassagen findet man in englischer Übersetzung in Aston (1972), Teil 1, S. 261–263 und Teil 2, S. 65–69. Eine sehr gute Einführung in die frühe Religions- und Denklandschaft Japans bietet Bowring (2005); die Einführung des Konfuzianismus in Japan wird etwas ausführlicher im ersten Kapitel von Paramore (2016) beschrieben.

Früher japanischer Buddhismus

Im 8. Jhd. n.u.Z. ist der Buddhismus in Japan etabliert und es beginnt ein philosophischer Diskurs über die verschiedenen buddhistischen Lehren. Der Mönch Kûkai (774–835) orientiert sich in seinem Denken am sogenannten esoterischen Buddhismus (Vajrayâna, tantrischer Buddhismus). Der hier ausgewählte Text Shôraimokuroku gehört zu einem philosophisch eher ungewöhnlichen Genre: Es ist eine Liste der Gegenstände, die er von seiner Bildungsreise nach China (804–806) mitgebracht hat. Dennoch enthält der Text viele philosophisch interessante Passagen: Es geht u.a. um die Frage, wie die buddhistische Lehre überhaupt weitergegeben werden kann, welche Rolle Übersetzungen spielen, und welche Funktion Bilder (z.B. Mandalas) für die Vermittlung philosophischer und religiöser Inhalte haben. Der Text ist enthalten in Hakeda (1972, S. 140–150); zu Inhalt und Kontext vgl. Kaufmann (2020).

Ästhetik

Viele philosophische Themen werden im vormodernen Japan in der belletristischen und essayistischen Literatur abgehandelt. Beispielsweise stellen die beiden Klassiker der Miszellen-Literatur, das Kopfkissenbuch (um 1000 n.u.Z.) und das Tsurezuregusa (um 1330), wichtige Quellen für die japanische Ästhetik dar. Auch die Gegenüberstellung beider Texte ist interessant, da das frühere Kopfkissenbuch weitgehend ohne buddhistischen Einfluss verfasst wurde, das Tsurezuregusa dagegen eine starke buddhistische Prägung erkennen lässt. In diesem Text werden bedeutende ästhetische Konzepte wie wabi-sabi und mono no aware entwickelt, die den späteren japanischen Diskurs über Ästhetik bis heute prägen. Gute Übersetzungen bieten Sei (2016) und Yoshida (1978); zur japanischen Ästhetik vgl. Keene (1969) und Sartwell (2004).

Zen-Buddhismus

Als der japanische Zen-Philosoph wird häufig Dôgen (1200–1250) gehandelt. Dessen Texte sind ohne Vorkenntnisse aber schwer zugänglich, da sie oft mit Ausdrücken aus der Tradition spielen und ihnen eine neue Bedeutung beilegen. Dôgens Text Bendôwa enthält allerdings eine Art Einführung in sein Denken, siehe Steineck (2002, 2009 und 2018). Zur Einführung in die Zen-Philosophie eignen sich außerdem Texte von Musô Soseki, in Auszügen enthalten in Heisig (2011, S. 163–71). Sehr gut zugänglich sind schließlich die Predigten des späteren Zen-Meisters Bankei (1622–1693). Seine Predigten, die unter dem Titel „Die Zen-Lehre des Ungeborenen“ erschienen sind, entwickeln zentrale Gedanken der Zen-Philosophie und enthalten zudem Frage- und Antwort-Passagen, in denen Bankei direkt auf die Fragen aus dem Publikum eingeht; siehe Bankei (1988, S. 37–88). Der Text kann gut mit der Lektüre des Zen Tea Record aus dem 19. Jahrhundert verbunden werden, ein Text, der die Moden der Zeit (Teezeremonie, Wabi-Sabi Ästhetik) auf ihren religiösen Gehalt zurückführen möchte, siehe Hirota (1988, S. 261–286).

Ethik und Ästhetik der Tee-Zeremonie

Zur Ethik und Ästhetik der Teezeremonie ist auch der Text Nambôroku interessant, der die Grundzüge des Denkens des größten Tee-Meisters Sen no Rikyû (1522–1591) enthält; siehe Izutsu & Izutsu (1988, S. 176–202). Dazu sollte man dann aber unbedingt auch einen kurzen und sehr lustigen Text des konfuzianischen Philosophen Dazai Shundai (1680–1747) lesen, der die japanische Teezeremonie seiner Zeit vehement kritisiert. Dieser Text zeigt sehr anschaulich, dass es nie einheitliche Auffassungen in Japan gab, auch nicht über die Tee-Ästhetik, siehe Carter (2014, Kap. 13).

Politische Philosophie

Der politische Diskurs der frühen Neuzeit ähnelt in einigen Hinsichten den Diskussionen in der westlichen Philosophie und kann daher besonders gut in komparativen Seminaren einbezogen werden. Als Texte eignen sich z.B. die Diskussionen um die 46 Samurai, in denen es um den ethischen Konflikt zwischen persönlicher Loyalität und staatlicher Ordnung geht, siehe Bary et al. (2005, S. 353–383). An dieser Diskussion sind einige der einflussreichsten japanischen Intellektuellen der Zeit beteiligt, u.a. der Konfuzianer Ogyû Sorai (1666–1728), der ein umfassendes philosophisches Werk hinterlassen hat. Sein Beitrag zum konfuzianischen Diskurs über die Auswahl guter Beamter ist einer meiner philosophischen Lieblingstexte aus Japan (Ogyû 1999, S. 219–249): Seine Bemerkungen enthalten interessante Auffassungen über Meritokratie sowie staatliche Ordnung und lesen sich zudem manchmal wie ein moderner Management-Ratgeber. Der politische Philosoph und Berater Kumazawa Banzan (1619–1691) entwickelt ebenfalls zahlreiche Vorschläge zur Umgestaltung der neuzeitlichen Gesellschaft in Japan. Diese Vorschläge findet man in Kumazawa (2020, z.B. S. 57–62). Darin argumentiert er u.a. für Steuersenkungen, soziale Mobilität sowie für die Umsiedlung der Samurai aufs Land. Andô Shôeki (1703–1762) ist ein Vorläufer radikal-egalitären Denkens in Japan, der sich kritisch mit dem Konfuzianismus seiner Zeit auseinandersetzt; siehe Yasunaga (1992, S. 233–252). In komparativer Hinsicht ist gerade auch der Diskurs über den Naturzustand interessant, der dem westlichen Diskurs in vielen Hinsichten ähnelt; vgl. dazu meinen Text: Kaufmann (2016). Eine sehr gute Einführung in das politische Denken der frühen Neuzeit in Japan mit Kapiteln über alle hier erwähnten Autoren bietet Watanabe (2012); siehe auch Paramore (2023).

Rezeption westlicher Wissenschaft

Die japanische Geistesgeschichte ist auch deshalb interessant, weil sie sich Jahrhunderte lang weitgehend ohne europäische Einflüsse vollzogen hat. Allerdings findet eine erste Auseinandersetzung mit dem westlichen Denken nicht erst nach der Öffnung der japanischen Grenzen für Ausländer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Bereits in der Frühen Neuzeit Japans (1600–1868) wird westliche Wissenschaft rezipiert. Darüber berichtet ein autobiografischer Text von einem der Pioniere dieser Rezeption: Sugita Genpaku (1733–1817), siehe Sugita (1942).

Feminismus und Demokratie

Nach der Öffnung zum Westen entsteht in Japan ein sehr lebhafter intellektueller Diskurs, in dem verschiedene Einflüsse aus Japan, China und Europa diskutiert werden. Besonders interessant ist die Diskussion um Frauenrechte und Demokratie im Werk der Dichterin und Essayistin Yosano Akiko (1878–1942). Einige ihrer Essays und Gedichte liegen in guter deutscher Übersetzung vor, siehe Yosano (2022). 

Widerstand gegen die Moderne – und ihre Verteidigung

Leider kann sich dieses demokratische und egalitäre Denken auch in Japan nicht durchsetzen. An der Nationalisierung und Militarisierung Japans haben u.a. Philosophen und Intellektuelle mitgewirkt, wie verschiedene Diskurse der Kriegszeit zeigen, siehe Heisig (2011, S. 1059–84). Einige von ihnen fordern eine „Überwindung der Moderne“, die als westlicher Fremdkörper interpretiert wird. Demgegenüber plädiert der politische Philosoph Maruyama Masao (1914–1996) für eine Modernisierung des Denkens und sucht die Quellen der Moderne gerade auch in der neuzeitlichen japanischen Philosophie, siehe Maruyama (2007, Bd. 1, S. 105–112 und Bd. 2, S. 43–56).

Zeitgenössischer Marxismus aus Japan

Einen ganz aktuellen Beitrag zur philosophischen Debatte aus Japan bieten die Arbeiten von Saitô Kôhei. Saitô versucht nicht nur eine Verknüpfung von marxistischer Gesellschaftskritik und ökologischen Degrowth-Ansätze. Als Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe präsentiert er zudem eine Neuinterpretation des späten Marx. Für die Lehre eignet sich z.B. das an ein breites Publikum gerichtete Buch Systemsturz (Saitô 2023). Einen Überblick über die zeitgenössische Philosophie in Japan bieten Steineck, Lange und Kaufmann (2014).

Schlussbemerkung

Meines Erachtens besteht die größte Herausforderung bei der Integration außereuropäischer Philosophie in den heutigen Kanon darin, eine Mitte zu finden zwischen nivellierendem Universalismus (à la „Letztlich geht es dem Konfuzianismus um die Wahrung der Menschenrechte.“) und exotisierendem Partikularismus (à la „Das ostasiatische Denken erfasst die Welt im Gegensatz zum Westen nicht durch dualistische Begriffe.“). Meines Erachtens kann man dieser Herausforderung in der Lehre aber durch eine offene Diskussion, die sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede sucht, sowie durch eine Kontextualisierung der Debatten sinnvoll begegnen. Gerne kann man mir schreiben, wenn es noch Fragen oder Bedarf für weitere Anregungen gibt. Auf Wunsch schicke ich auch die betreffenden Texte zu.


Literatur

Aston, W. G. 1972. Nihongi: Chronicles of Japan from the Earliest Times to A.D. 697. Rutland Vt.: Charles E. Tuttle.

Bankei. 1988. Die Zen-Lehre vom Ungeborenen. Übersetzt von Norman Waddell. Bern, München, Wien: Otto Wilhelm Barth Verlag.

Bary, Wm. Theodore de, Carol Gluck, Arthur E. Tiedemann, Andrew Barshay, and William Bodiford. 2005. Sources of Japanese Tradition Volume 2. New York: Columbia University Press.

Bowring, Richard. 2005. The Religious Traditions of Japan 500–1600. Cambridge: Cambridge University Press.

Carter, Steven, ed. 2014. “The Columbia Anthology of Japanese Essays.” New York: Columbia University Press.

Hakeda, Yoshito S. 1972. Kûkai: Major Works. New York: Columbia University Press.

Heisig, James W, Thomas Kasulis und John Maraldo. 2011. Japanese Philosophy: A Sourcebook. University of Hawaii Press.

Hirota, Denis. 1988. Wind in the Pines. Fremont: Asian Humanities Press.

Izutsu, Toshihiko und Toyo. 1988. Die Theorie des Schönen in Japan. Köln: DuMont Verlag.

Kaufmann, Paulus. 2016. “Depictions of the State of Nature in Early Modern Japan.” Frontiers of Philosophy 9:133–86.

———. 2020. “Visuality in Esoteric Buddhism – Awakened with a Single Glance?” Asiatische Studien-Études Asiatiques 74 (4): 911–44.

Keene, Donald. 1969. “Japanese Aesthetics.” Philosophy East and West 19 (3): 293–306.

Kumazawa, Banzan. 2020. Governing the Realm and Bringing Peace to All below Heaven. Translated by John A Tucker. Cambridge: Cambridge University Press.

Maruyama, Masao. 2007. Freiheit und Nation in Japan: ausgewählte Aufsätze 1936–1949. Übersetzt und ausgewählt von Wolfgang Seifert München: Iudicium.

Ogyû, Sorai. 1999. Discourse on Government (Seidan) – an Annotated Translation by Olof Lidin. Wiesbaden: Harrassowitz.

Paramore, Kiri. 2016. Japanese Confucianism: A Cultural History. Cambridge: Cambridge University Press.

———. 2023. “Politics and Political Thought in the Mature Early Modern State in Japan 1650–1830.” In The New Cambridge History of Japan, edited by David L. Howell, 58–96. Cambridge: Cambridge University Press.

Saitô, Kôhei. 2023. Systemsturz. München: dtv.

Sartwell, Crispin. 2004. Six Names of Beauty. New York: Routledge.

Sei Shōnagon. 2016. Kopfkissenbuch. Übersetzt von Michael Stein. Zürich: Manesse Verlag.

Steineck, Christian. 2009. “Das Bendôwa von Dôgen: Narratologische Analyse eines doktrinären Textes.” Asiatische Studien 63 (3): 571–95.

Steineck, Raji C. 2018. “A Zen Philosopher? – Notes on the Philosophical Reading of Dôgen’s Shôbôgenzô.” In Concepts of Philosophy in Asia and the Islamic World, edited by Raji C. Steineck, Ralph Weber, Robert Gassmann, and Elena Louisa Lange, 1:577–606. Leiden, Boston: Brill / Rodopi.

Steineck, Raji C., Guido Rappe, and Kôgaku Arifuku, eds. 2002. Dôgen als Philosoph. München: Harrassowitz Verlag.

Steineck, Raji, Lange, Elena Louisa, Kaufmann, Paulus, eds. 2014. Begriff und Bild der modernen japanischen Philosophie. Stuttgart: frommann-holzboog

Sugita, Genpaku. 1942. “Rangaku Kotohajime.” Monumenta Nipponica 5 (1): 144–66.

Watanabe, Hiroshi. 2012. A History of Japanese Political Thought, 16001901. Translated by David Noble. Tokyo: International House of Japan.

Yasunaga, Toshinobu. 1992. Andô Shôeki: Social and Ecological Philosopher of Eighteenth Century Japan. New York: Weatherhill.

Yosano, Akiko. 2022. Männer und Frauen. Zürich: Manesse Verlag.

Yoshida, Kenkô. 1978. Betrachtungen aus der Stille. Übersetzt von Oskar Benl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.


Zur Person

Paulus Kaufmann ist Senior Lecturer am Japan-Zentrum der LMU in München sowie am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich. Zudem organisiert und moderiert er verschiedene public philosophy Formate, z.B. das „Philosophische Foyer“ in der Villa Stuck und „Nachgefragt“ am Zentrum für Ethik und Philosophie in der Praxis (ZEPP) der LMU. Er unterrichtet vor allem zu Themen der ostasiatischen Geistesgeschichte.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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