Politische Vielfalt im Seminarraum: Eine weitere Diversitätsdimension?

VON TIM KRAFT (MECKENBEUREN)

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themenschwerpunkts „Diversität in der philosophischen Lehre”.

Wie viel politische Vielfalt braucht der philosophische Seminarraum? Mit dieser Frage betreten wir leider ein Minenfeld: Auf der einen Seite stehen Stimmen (in der Regel von außerhalb), die die Philosophie als einen Hort linker bis linksradikaler Ideologien ansehen, in dem abweichende Meinungen unterdrückt werden. Auf der anderen Seite steht die Einschätzung (in der Regel von innerhalb), dass es kaum einen Ort geben dürfte, an dem Positionen aller Art, insbesondere auch normativ-politische, so offen diskutiert werden können, wie den philosophischen Seminarraum. Solange man bereit ist, in den Wettstreit des besseren Arguments einzutreten, ohne dabei den Boden gegenseitiger Wertschätzung zu verlassen, kann man hier von Organhandel bis zum Wahlrechtsentzug für Dumme so ziemlich alles zur Diskussion stellen.

Ich möchte hier zwei Fragen nachgehen: Sollte politische Diversität als weitere Diversitätsdimension betrachtet werden? Hier müssen wir zunächst klären, welche Art von Argument überhaupt einschlägig sein könnte, um eine Diversitätsdimension zu etablieren. Nach der Prüfung von zwei solchen Argumenten weise ich dieses Ansinnen tentativ zurück. Ich schlage aber auch vor, eine andere Frage zu thematisieren: Wie entsteht überhaupt der Eindruck, es fehle in der Philosophie an politischer Vielfalt? Soweit ich sehen kann, spielt hier ein Wahrnehmungsfehler eine große Rolle, auf den ich am Ende meines Beitrags eingehe.

Diversitätsdimensionen

Diversitätspolitik ist fest verknüpft mit den z.B. durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz etablierten Dimensionen Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung, Behinderung, ethnische Herkunft und Alter. Bestehende Diskussionen über Erweiterungen – etwa um den (nicht-)akademischen Hintergrund – zeigen jedoch, dass diese Liste nicht als abschließend behandelt werden sollte. Eine solche Erweiterung könnte daher die politische Einstellung sein. Darunter werde ich hier gefestigte, prinzipiengeleitete Einstellungen verstehen, mit denen ihre Vertreter:innen sich selbst identifizieren („als Liberale denke ich…“) und die zu Gruppenbildung führen („wir Anarchist:innen hinterfragen…“). Dazu zählen Liberalismus, Libertarismus, Konservativismus, Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus usw., nicht Meinungen zu politischen Einzelfragen. Es geht daher auch nicht darum, welche Partei wie oft gewählt wird. Sollten Philosoph:innen z.B. Parteien unterproportional wählen, die Haushaltsmittel für Bildung streichen wollen, bedürfte dies keiner besonderen Erklärung und wäre auch kein Zeichen mangelnder politischer Vielfalt.

In aller Kürze lassen sich zwei Hauptargumente unterscheiden, warum Diversität bezüglich einer Dimension nicht bloß wünschenswert, sondern normativ geboten sei.

  1. Das Diskriminierungsargument: Fehlende Diversität (bei erstrebenswerten, privilegierten Rollen) ist ein prima facie Indiz für ungerechtfertigte Diskriminierung. Diversitätspolitik ist dann geboten, um die Diskriminierung zu beenden.
  2. Das epistemische Argument: Diversität führt zu besseren philosophischen Ergebnissen. Neue Themen werden erschlossen, übersehene Theorieansätze ausgearbeitet und problematische Begründungen als zweifelhaft erkannt.

Anwendung auf politische Vielfalt

Bevor wir diese Argumente auf politische Vielfalt anwenden, will ich eine Besonderheit politischer Einstellungen ansprechen: Politische Einstellungen sind jeweils eng verknüpft mit normativen Thesen und damit mit philosophischen Festlegungen (in manchen Teildisziplinen). Wenn wir dagegen durch Diversitätsmaßnahmen etwas dazu beitragen, dass z.B. mehr Texte von Frauen gelesen werden oder der Frauenanteil unter Studierenden und Lehrenden steigt, dann fördern wir Geschlechtervielfalt, nicht bestimmte philosophische Positionen: Frauenförderung fördert Frauen, nicht etwa den Feminismus. Gleiches gilt für die anderen etablierten Diversitätsdimensionen, aber eben nicht für politische Einstellungen: Wenn wir politische Vielfalt fördern, fördern wir Personen wegen ihrer Einstellung, die Hand in Hand geht mit philosophischen Positionen. Mehr politische Vielfalt in der Philosophie ist daher nicht ohne direkte Eingriffe in die philosophische Theorienlandschaft zu haben. Philosoph:innen könnten hinsichtlich Geschlecht, Ethnie, Behinderung usw. sehr divers sein und zugleich zu einem umfassenden Konsens in den Hauptfragen der Philosophie gelangen; sie können jedoch nicht politisch divers sein und zu einem solchen Konsens gelangen. Dies ist zumindest ein prima facie Grund gegen politische Vielfalt als Diversitätsdimension, da hier Diversitätspolitik mit Wissenschaftsautonomie in Konflikt gerät. Umso wichtiger ist es, die beiden Diversitätsargumente kritisch zu prüfen.

Um das Diskriminierungsargument abschließend würdigen zu können, ist die Datenlage schlicht zu dünn. Wir wissen zu wenig über die politische Einstellung von Philosoph:innen, und selbst wenn sie stark von der allgemeinen Bevölkerung abweichen sollten, wüssten wir noch nicht, ob wir es mit einer ungerechten Ungleichheit zu tun haben. Ohnehin scheinen wir es viel eher mit einem Gruppenkonflikt und nicht mit gesellschaftlicher Diskriminierung zu tun zu haben. Denn politische Einstellungen sind anders strukturiert als die anderen Dimensionen: Es gibt hier keinen vermeintlichen Normalfall und Abweichungen davon. Daher kann man auch nicht so leicht sagen, wer hier die Privilegierten und wer die Diskriminierten sein könnten: Diskriminiert die schweigende Mitte alle anderen, die Linken die Rechten, die Rechten die Linken oder doch alle die jeweils anderen?

Anekdoten über „verbotene“ Meinungsäußerungen helfen hier auch nicht weiter: Wenn sich jemand im Seminarraum unwohl fühlt, etwas zu sagen, sollte das ernst genommen werden – aber das ist kein Grund, nach politischer Diversität zu rufen, sondern nach Maßnahmen, die für eine respektvolle Seminaratmosphäre sorgen, unabhängig davon, ob sich Teilnehmende nicht trauen nachzufragen, was denn nun die „Frege‘schen Angebote“ (Fregean propositions) in dem Aufsatz von diesem Lewis seien oder ob Transfrauen/-männer „wirkliche“ Frauen/Männer seien.

Das epistemische Argument dürfte daher das Argument mit dem größeren Potential sein: In aller Kürze ist die Überlegung im Fall der politischen Vielfalt, dass diese Vielfalt zu einer größeren Vielfalt an Fragestellungen und Lösungsansätzen führe. Z.B. könnten konservative Philosoph:innen normative Fragen rund ums Unternehmertum stellen, die sonst eher nicht gestellt würden oder einen stärkeren Blick für Unterschiede anstelle von Gleichheiten zwischen Menschen haben. Ich bin skeptisch, dass es diese Vorteile – abgesehen von vielleicht einigen wenigen Beispielen – wirklich gibt. Wichtiger ist mir aber, dass dieses epistemische Argument, selbst wenn die genannten Punkte zutreffen sollten, anders gelagert ist als bei den anderen Diversitätsdimensionen. Alle möglichen Maßnahmen – z.B. besser ausgestattete Seminarräume – haben irgendwelche positiven epistemischen Effekte. In der Diversitätspolitik geht es aber darum, diversitätsspezifische epistemische Effekte zu erreichen.

Wird Diversitätspolitik epistemisch begründet, dann nicht aufgrund einer vagen Hoffnung auf mehr Kreativität und einen schärferen kritischen Blick, sondern aufgrund der besonderen epistemischen Rolle von Lebenswirklichkeiten und -erfahrungen. Menschen mit verschiedenen politischen Einstellungen unterscheiden sich aber nicht in ihren gelebten Erfahrungen, jedenfalls nicht darüber hinaus, dass Menschen immer individuelle Erfahrungen mitbringen. Wir sollten hier Unterschiede in emotionalen Reaktionen und Unterschiede in den erlebten Erfahrungen auseinanderhalten. Linke und Rechte reagieren vielleicht emotional anders auf z.B. Vermögensungleichheiten: Was die einen anspornt und motiviert, beklagen die anderen als unberechtigt und ausbeutend. Das sind emotionale Reaktionen. Arme und Reiche dagegen erleben Ungleichheiten aufgrund ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit anders. Das sind erlebte Erfahrungen. Aus Sicht der Diversitätspolitik sind diejenigen epistemische Vorteile entscheidend, die durch eine Vielfalt der Perspektiven entstehen, d.h. die auf strukturell unterschiedlichen Erfahrungen beruhen und die sich nicht auf bloße Einstellungsverschiedenheiten beschränken.

Ein Wahrnehmungsfehler?

Summa summarum bin ich also skeptisch, was die Überzeugungskraft der beiden Argumente, angewendet auf politische Diversität, angeht. Doch damit endet dieser Beitrag nicht. Nicht nur, weil offene Enden philosophisch unbefriedigend sind, sondern auch, weil es eine bessere Antwort auf die Frage gibt, wie es denn um politische Vielfalt in der Philosophie bestellt ist. Meine Überlegung ist, wie angekündigt, dass hier leicht ein Wahrnehmungsfehler unterläuft.

Ein Beispiel kann zum Einstieg helfen: Wenn man trolley cases in den Lehrveranstaltungen verschiedener Fächer diskutiert, entstehen – jedenfalls nach anekdotischer Evidenz zu urteilen – sehr unterschiedliche Diskussionen. In der Rechtswissenschaft wird das Problem von den Teilnehmenden automatisch als ein juristisches Problem analysiert, in der Ökonomie als ein Problem des aggregierten Nutzens, in der Literaturwissenschaft als ein Problem dilemmatischer, persönlicher Entscheidungsnot – und in der Philosophie als ein Problem der Suche nach einem angemessenen normativen Prinzip. Die verschiedenen Fächer haben ihre interne Fachlogik mit ihren eigenen Begriffen, Problemverständnissen und Methoden.

Ähnliches gilt für politische Einstellungen und aktuelle politische Themen. Zugespitzt formuliert: Je nach politischer Einstellung wird als erstes auf Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und sozialen Ausgleich geschaut oder aber auf Freiheitseinschränkungen sowie Wirtschafts- und Finanzierungsfragen. Die Ansätze der verschiedenen Fächer und der verschiedenen politischen Einstellungen überlappen sich dabei. Wenn jedoch Philosoph:innen normative Fragen ins Zentrum stellen und als rational begründbare Fragen behandeln, dann nicht aufgrund ihrer (vermeintlichen) politischen Einstellung, sondern aufgrund ihrer internen Fachlogik. Es wäre kein philosophisches Seminar, wenn z.B. beim Thema Migration als erstes eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse eingefordert würde.

Wenn das stimmt, besteht der Wahrnehmungsfehler in Folgendem: Wir beobachten eine angeregte und argumentbasierte normative Debatte, erinnern uns daran, dass Linke Gerechtigkeitsfragen großes Gewicht zuweisen und schlussfolgern irrtümlich, dass hier Linke miteinander diskutieren. In Wirklichkeit wird hier einfach nur philosophiert.

Bisher betrifft diese Erklärung nur normative Fragen. Sie lässt sich jedoch, zumindest spekulativ, auch auf andere philosophische Teildisziplinen ausdehnen. Zur Fachlogik gehört nämlich auch, philosophische Fragen by default als einer rational begründbaren, intersubjektiv überzeugenden Lösung zugänglich zu behandeln, auch wenn sie keine Tatsachenfragen im engeren Sinne sind. Grundlegende Fragen nach Wahrheit, Wissen, Geist, Sprache, Vernunft, der Natur des Menschen usw. sind in der Philosophie jedenfalls keine reine Ansichtssache. Schon diese Annahme wird im politischen Spektrum unterschiedlich stark geteilt.

Meine Erklärung hat freilich ihre Grenzen: So ist sie erst einmal nur eine Hypothese, die ich mangels Daten nicht belegen kann. Sie ist außerdem auch vereinbar damit, dass die Philosophie dennoch aus anderen Gründen politisch einseitig ist. Meine Erklärung hat aber auch Vorteile: Sie erlaubt es, auf den Vorwurf der politischen Einseitigkeit in einer nicht bloß defensiven Weise zu antworten. Sie spielt den Ball zurück und fragt nach, auf welcher Grundlage die Einordnung der Philosophie im politischen Spektrum erfolgt. Da ich damit rechne, dass der ideologische Kulturkampf zunehmen und auch im Seminarraum ankommen wird, ist es mir wichtig, eine Antwortstrategie parat zu haben. Philosoph:innen sollten sich trauen, darauf zu pochen, dass sie ihre Thesen – insbesondere auch normative Thesen – aufgrund ihrer fachlichen Expertise vertreten, nicht aufgrund einer vorgefertigten politischen Ideologie.


Zum Weiterlesen

Henning, Tim (2024): Wissenschaftsfreiheit und Moral. Berlin: Suhrkamp. – Verteidigung der Wissenschaftsautonomie (auf die ich mich oben berufen habe), die aber über einen kleinen Umweg mit moral-basierter Kritik an wissenschaftlichen Thesen vereinbar ist.

Jussim, Lee; Crawford, Jarret; Anglin, Stephanie & Stevens, Sean (2015): „Ideological Bias in Social Psychological Research“, in Forgas, Joseph; Fiedler, Klaus & Crano, William (Hrsg.): Social Psychology and Politics. New York: Taylor & Francis, pp. 91–109. – Überblick zur parallelen Frage in der Sozialpsychologie.

Peters, Uwe (2019): „Implicit Bias, Ideological Bias, and Epistemic Risks in Philosophy“, in: Mind and Language 34: 393–419. – Zum epistemischen Argument.

Peters, Uwe; Honeycutt, Nathan; De Block, Andreas & Jussim, Lee (2020): „Ideological Diversity, Hostility, and Discrimination in Philosophy“, in: Philosophical Psychology 33: 511–548. – Internationale Befragung zu politischen Einstellungen und willingness to discriminate von akademischen Philosoph:innen.

Weinberg, Justin (2014): „Lack of Political Diversity: A Problem?“, in: Daily Nous, https://dailynous.com/2014/12/22/lack-of-political-diversity-a-problem-2/. – Politische Diversität wird als Thema aufgeworfen, jedoch ohne Position zu beziehen; siehe auch die Kommentare.


Zur Person

Tim Kraft arbeitet hauptberuflich im Wissenschaftsmanagement und nebenberuflich als Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Regensburg. Innerhalb der Philosophie beschäftigen ihn vor allem Fragen der Erkenntnistheorie, Logik und Argumentationstheorie sowie der Philosophiephilosophie.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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