VON BARBARA VETTER (BERLIN)
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des „Themenschwerpunkts Diversität”. Alle Beiträge zum Schwerpunkt sind hier zu finden.
Wer als erste:r in der Familie studiert, hat oft besondere Hindernisse zu bewältigen: Häufig ist das Geld knapp, die universitären Strukturen sind fremd, es gilt, eine ganz neue Sprache und Form der Kommunikation zu erlernen, die nicht selten von der Herkunftsfamilie entfremdet, und die Unsicherheit – „gehöre ich wirklich hier her?” – ist besonders groß. Es verwundert deshalb kaum, dass die Erstakademiker:innen an der Universität unterrepräsentiert sind, wie der Bildungstrichter anschaulich verdeutlicht.
Für die Philosophie als Fach haben wir keine Daten, dafür aber Erfahrungsberichte in zwei Blogs über „firstgenphilosophers”: eines auf Deutsch und eines auf Englisch, beide übrigens betrieben unter anderem vom großartigen Daniel James.
Dabei ist es für die Philosophie als Fach wichtig, Erstakademiker:innen zu fördern. Das natürlich schon aus offensichtlichen Gerechtigkeitsgründen – niemandem sollte der Erfolg im Studium nur wegen der Herkunftsfamilie verwehrt bleiben! Mit den Erstakademiker:innen gehen der Philosophie aber auch wichtige Perspektiven verloren, die unter anderem die Anbindung und gesellschaftliche Relevanz der Philosophie außerhalb des akademischen „Elfenbeinturms” verbessern können.
Was kann in der Lehre für die Erstakademiker:innen getan werden? Hier sind einige Vorschläge, beginnend mit den niedrigschwelligsten.
Explizit machen
Für Lehrende, die schon lange im akademischen Betrieb tätig sind, ist vieles selbstverständlich: vom bildungssprachlichen Vokabular über übliche Abläufe an der Universität bis zu Umgangsformen und Habitus. Diese Selbstverständlichkeiten zu reflektieren und explizit zu machen, hilft, Ängste und Unsicherheiten abzubauen und unnötige Fehler zu vermeiden.
Dazu gehört: Anforderungen im Seminar klar zu formulieren, Umgangsformen explizit zu machen (z.B.: Wie schreibe ich eine E-Mail an die Professorin?), Begrifflichkeiten zu erklären. Es sollte nicht abgewartet werden, bis Studierende nachfragen – nicht selten besteht die Schwierigkeit schon darin, überhaupt die richtigen Fragen zu formulieren. Zudem ist gerade für jene, denen die Universität ganz fremd ist, das Nichtwissen und Nichtverstehen oft mit Scham verbunden und wird eher versteckt.
Übrigens ist Sprache oft auch in einem weiteren Sinn ein Hindernis: Während Studierende aus bildungsbürgerlichen Haushalten das Englische oft schon zu Studienbeginn fließend beherrschen, etwa weil sie Auslandsaufenthalte absolviert haben, stellt es in meiner Erfahrung für Studierende erster Generation oft ein großes Hindernis dar, Texte auf Englisch zu lesen. Auch das kann thematisiert und ggf. mit gezielten Angeboten abgefedert werden.
An Geld denken
Die Philosophie ist ein Fach, in dem es oft zum guten Ton gehört, sich nicht für Geld zu interessieren. (Wer sich für Geld interessiert, soll doch BWL studieren!) Aber das muss man sich leisten können. Studierende, die für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen müssen, stehen unter ganz anderem Druck als solche, deren finanzielle Situation von den Eltern bestritten oder zumindest im Hintergrund abgesichert ist. Viele der Studierenden, mit denen wir (die Veranstalterinnen des Stammtischs für Studierende erster Generation am Philosophie-Institut der FU Berlin, mehr dazu unten) gesprochen haben, arbeiten in Servicejobs und wissen gar nicht von attraktiveren Optionen – sei es ein Stipendium oder eine Stelle als studentische Hilfskraft. Oder sie wissen davon, überschätzen aber die Anforderungen, um für solche Optionen in Frage zu kommen („Das ist doch nichts für mich!”).
Dies im Blick zu behalten, heißt: Studierende auf Möglichkeiten der Studienfinanzierung hinzuweisen, aber auch: denjenigen, die ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten müssen, das Leben nicht zusätzlich schwer zu machen. Das kann je nach konkretem Fall ganz Unterschiedliches bedeuten: etwa Flexibilität bei Abgabefristen für Studienleistungen oder der Anwesenheit im Seminar oder die Ermöglichung eines Teilzeitstudiums.
Die Organisation Arbeiterkind.de bietet übrigens Veranstaltungen zum Thema Studienfinanzierung an, mit denen wir an der FU Berlin gute Erfahrungen gemacht haben.
Zusammenkommen
Anders als viele andere unterrepräsentierte Gruppen sind die Erstakademiker:innen eine „unsichtbare” Minderheit, das heißt: Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist nicht unbedingt ersichtlich und wird oft auch aktiv versteckt. Dadurch fühlen sich betroffene Studierende zusätzlich allein.
Eine gute Möglichkeit, die Erstakademiker:innen zu fördern, besteht darin, ein eigenes Format für sie ins Leben zu rufen. An unserem Institut an der FU Berlin haben wir einen „Erste-Generation-Stammtisch”, der im Semester etwa einmal im Monat stattfindet und mal einfach dem Erfahrungsaustausch und gegenseitigen Kennenlernen dient, mal auch spezifisch zu Informationszwecken genutzt wird, etwa zu Themen wie Studienfinanzierung, Struktur der Universität oder schlicht „was ich mich sonst nirgendwo zu fragen traue”. Um die Atmosphäre informell und offen zu halten, gibt es meist Pizza und Getränke. Bei diesem Stammtisch sind auch Lehrende dabei, die selbst Erstakademiker:innen sind und damit den Studierenden gewissermaßen als „role model” dienen können. An manchen anderen Instituten haben Studierende selbst diese Stammtische in die Hand genommen und Literatur gelesen und diskutiert, die ihre Situation reflektiert. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Karriereberatung
Wenn es nach dem Studium in Richtung Wissenschaft weitergehen soll, verstärken sich viele der schon vorhandenen Hindernisse. Die finanzielle Prekarität einer wissenschaftlichen Karriere trifft jene doppelt, die kein familiäres „Polster” haben. Die strategische und sehr langfristige Planung einer solchen Karriere gehört nicht selten zum selbstverständlichen Repertoire einer bildungsbürgerlichen Biographie, ist aber vielen, die in prekären Verhältnissen aufgewachsen sind, fremd. Hier ist gezielte Beratung und Unterstützung geboten.
Die Gesellschaft für analytische Philosophie hat deshalb, zunächst als „Versuchsballon”, ihren jährlichen Doktorand:innenworkshop im Jahr 2024 spezifisch auf Erstakademiker:innen während sowie kurz vor und kurz nach der Promotion ausgerichtet. Neben Fachvorträgen und -gesprächen gab es individuelle Lebenslaufgespräche, in denen jede:r Teilnehmer:in mit zwei Professor:innen den bisherigen Werdegang und weitere Karrierepläne besprechen konnte. Wünschenswert wäre sicherlich auch ein gezieltes Mentoring-Programm. Aber das ist im Moment noch Zukunftsmusik.
(Sehr unvollständige) Lektüreempfehlungen und Links
https://www.firstgenphilosophers.com
https://userblogs.fu-berlin.de/firstgenphilosophers
Christina Möller, Herkunft zählt (fast) immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und -professoren. Beltz-Juventa 2015.
Jennifer Morton, Moving Up Without Losing Your Way. The Ethical Costs of Upward Mobility. Princeton University Press 2019.
Zur Person
Barbara Vetter ist Professorin für Theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin und aktuell Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Philosophie sowie Direktorin der Kollegforschungsgruppe Human Abilities und Vizepräsidentin der Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP). Zusammen mit Daniel James hat sie den Blog „Philosophie in erster Generation“ ins Leben gerufen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Metaphysik und Erkenntnistheorie des Könnens – also mit Möglichkeiten, Fähigkeiten und Dispositionen.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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