VON SEBASTIAN BENDER (GÖTTINGEN)
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themenschwerpunkts „Diversität in der philosophischen Lehre”.
Die Frühe Neuzeit ist eine Epoche der Philosophiegeschichte, welche in der philosophischen Lehre eine vergleichsweise große Rolle spielt. Die Namen sogenannter ‚Klassiker‘ dieser Epoche – z. B. René Descartes oder David Hume – tauchen seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten, regelmäßig in den Vorlesungsverzeichnissen philosophischer Institute auf. Für frühneuzeitliche Philosophinnen war im klassischen philosophiehistorischen Kanon hingegen wenig bis gar kein Platz. Dieser Kanon wird in der Forschung zur Kanonbildung schon seit längerem kritisch hinterfragt (hier sei stellvertretend für viele nur auf Hagengruber 2015, Hutton 2015, Shapiro 2016 und Ebbersmeyer 2020 verwiesen). Insbesondere in den vergangenen zehn Jahren hat das Forschungsinteresse an den Philosophinnen der Frühen Neuzeit erfreulicherweise merklich zugenommen, was sich nicht zuletzt an einer großen Zahl entsprechender Publikationen bemerkbar macht.
Diese Entwicklung schlägt sich, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, ebenfalls in der Lehre nieder. Dies stellt viele Dozierende vor eine vergleichsweise neue Herausforderung—insbesondere solche Lehrende, die sich in ihrer Forschung nicht ‚hauptberuflich‘ mit den aktuellen Publikationen zur Philosophie der Frühen Neuzeit beschäftigen (gerade an kleineren Philosophieinstituten unterrichten die allermeisten Dozierenden schließlich häufig zu Themen, auf die sie nicht spezialisiert sind).
Es stellen sich u. a. folgende Fragen: Wie sieht ein diversifizierter Seminarplan zur frühneuzeitlichen Philosophie aus, in dem Philosophinnen nicht nur irgendwie oder nebenbei vorkommen, sondern in den sie sinnvoll eingebettet sind? Welche Texte welcher Philosophinnen eignen sich gut für ein Proseminar mit Bachelor-Studierenden, welche eher für ein Hauptseminar mit Master-Studierenden? Welche Texte können in Verbindung mit welchen Themen und mit welchen didaktischen Zielsetzungen gut eingesetzt werden? Erschwert wird die Beantwortung dieser Fragen nicht zuletzt dadurch, dass die Werke von Philosophinnen der Frühen Neuzeit in der Ausbildung heutiger Lehrender in vielen Fällen kaum oder gar nicht vorkamen.
In diesem Beitrag beanspruche ich nicht, die genannten Fragen umfassend zu beantworten; ich möchte aber versuchen, einige Anregungen zu bieten, und vor allem einige wichtige Textsammlungen kurz vorstellen. Beides erweist sich hoffentlich bei der Konzeption von Seminaren zur Philosophie der Frühen Neuzeit als hilfreich.
Es gab und gibt die Tendenz, die Philosophie der Frühen Neuzeit in Rationalismus und Empirismus einzuteilen. Dies ist wohl nicht zuletzt deshalb so gängig, weil damit das Narrativ von Immanuel Kant als dem ‚Vereiniger‘ oder ‚Überwinder‘ dieser beiden (angeblichen) Strömungen bedient wird. Als ‚Rationalisten‘ werden dann zumeist René Descartes, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz genannt, als ‚Empiristen‘ John Locke, George Berkeley und David Hume. Diese ‚big six‘ standen lange Zeit sowohl in der Forschung als auch in der Lehre im Vordergrund.
In modernen Textsammlungen ist die Orientierung an diesen sechs männlichen ‚Klassikern‘ in dieser Form entweder gar nicht mehr zu finden oder nur noch in abgeschwächter Form. Die von Lisa Shapiro und Marcy Lascano herausgegebene Textsammlung Early Modern Philosophy – An Anthology (Broadview Press, 2021) fällt in die erste Kategorie. Hier sind Texte von 43 frühneuzeitlichen Philosoph:innen versammelt, viele davon stammen von Frauen. Für einen Kurs, in dem Themen der frühneuzeitlichen Metaphysik und Erkenntnistheorie im Zentrum stehen, findet man hier exzellent ausgewählte Texte von Philosophinnen; zu nennen sind insbesondere Elisabeth von Böhmen, Margaret Cavendish, Anne Conway und Émilie Du Châtelet.
Die vielleicht größte Stärke dieses Bandes ist, dass sich darin auch zahlreiche Texte zu Gebieten finden, die in früheren Sammlungen höchstens am Rande vorkamen, etwa zur frühneuzeitlichen Ethik und Metaethik, zur politischen Philosophie und Bildungsphilosophie, aber auch zur Entstehung von Vorurteilen sowie zur gesellschaftlichen Rolle von Frauen; zu nennen sind hier insbesondere die Texte von Gabrielle Suchon, Madame de Maintenon, Lady Masham, Mary Astell, Catharine Trotter Cockburn und Sophie de Grouchy. Der von Shapiro und Lascano herausgegebene Band ist damit zurzeit wohl die erste Anlaufstelle, um einen ausgewogenen Seminarplan zu erstellen.
Einen etwas anderen Zuschnitt hat die von Roger Ariew und Eric Watkins herausgegebene Textsammlung Modern Philosophy (3. Auflage, Hackett, 2019), bei der eine Orientierung am ‚klassischen‘ Kanon zu erkennen ist; im Zentrum stehen Texte von Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Berkeley, Hume und Kant. Es finden sich aber auch hier zahlreiche Texte von Philosophinnen. Thematisch liegt der Fokus auf Themen der theoretischen Philosophie. Neben Autorinnen wie Cavendish, Conway und Du Châtelet, die ebenfalls im Band von Shapiro und Lascano prominent vertreten sind, kommt auch Mary Shepherd vor, was insbesondere für Kurse relevant ist, in denen das Thema Kausalität eine Rolle spielt. (Da Shepherd ins 19. Jahrhundert fällt, taucht sie bei Shapiro und Lascano nicht auf.)
Beide Textsammlungen eigenen sich ausgezeichnet für die Vorbereitung, Konzeption und Durchführung von Seminaren zur Philosophie der Frühen Neuzeit. Sie bieten nicht nur zahlreiche Texte von Philosophinnen, diese Texte sind außerdem auch thematisch sehr sinnvoll in die Bände integriert. Sowohl für Einführungskurse zur Philosophie der Frühen Neuzeit als auch für spezialisierte Seminare bieten beide Bände umfangreiche Ressourcen. Die Textsammlung von Shapiro und Lascano bietet dabei eine größere thematische Breite und berücksichtigt auch Themen, die im klassischen Kanon zumeist nicht vorkommen.
Mit jeweils beinahe 1000 Seiten sind die beiden bisher vorgestellten Textsammlungen sehr umfangreich. Wer es knapper möchte, kann auf den bereits vor 30 Jahren erschienenen Band Women Philosophers of the Early Modern Period (Hackett, 1994; hg. von Margaret Atherton) zurückgreifen. Dort sind zentrale Texte von Elisabeth von Böhmen, Cavendish, Conway, Lady Masham, Astell, Trotter Cockburn und Shepherd versammelt. Zu allen Texten gibt es eine hilfreiche Einführung und man kann diesen Band sehr gut in Seminaren verwenden (in vielen Kursen würde man in der Regel noch einen Text von Du Châtelet aufnehmen).
Für die deutschsprachige philosophische Lehre ist es zweifellos von Nachteil, dass die drei diskutierten Textsammlungen auf Englisch sind. Entsprechende Sammlungen mit deutschen Übersetzungen fehlen leider und tatsächlich liegen von vielen Texten überhaupt keine deutschen Übersetzungen vor. Mit diesem Problem ist man in der philosophischen Lehre allerdings ohnehin häufig konfrontiert. (Es tritt aber tatsächlich in etwas verschärfter Form auf, da gerade die englischsprachigen Originaltexte aus der Frühen Neuzeit meiner Erfahrung nach einige Studierende hin und wieder vor Verständnisprobleme stellen.)
Neben Textsammlungen stehen heute natürlich auch Online-Ressourcen für die Seminarvorbereitung zur Verfügung, von denen ich zwei nennen möchte. Project Vox rückt Philosoph:innen, die im traditionellen Kanon nicht vorkommen, in den Fokus. Es finden sich hier sehr hilfreiche, detaillierte Überblicksdarstellungen zu zahlreichen Philosophinnen der Frühen Neuzeit. Darüber hinaus bieten die zur Verfügung gestellten Seminarpläne vielfältige Anregungen für die eigene Lehre. Auch die Homepage des an der Universität Paderborn angesiedelten Center for the History of Women Philosophers and Scientists ist für die Seminarvorbereitung von großem Wert. Neben den umfangreichen Materialien zu Du Châtelet möchte ich insbesondere auf die sehr nützliche Encyclopedia of Concise Concepts by Women Philosophers verweisen, in der sich viele informative Artikel zu einer Vielzahl von Schlagworten finden.
Abschließend möchte ich kurz drei Punkte ansprechen, die man aus meiner Sicht bei der Seminarkonzeption im Hinterkopf behalten sollte. Erstens sollte man darauf achten, dass die Rolle von philosophierenden Frauen in der Frühen Neuzeit nicht auf die von ‚Sparringspartnerinnen‘ von philosophierenden Männern reduziert wird (siehe hierfür etwa Hutton 2015). Diese Gefahr besteht insbesondere in Fällen, in denen es sich bei den uns vorliegenden Texten um Briefwechsel handelt (etwa zwischen Elisabeth von Böhmen und Descartes oder zwischen Lady Masham und Leibniz). Allerdings sollte man natürlich nicht in Abrede stellen, dass Philosophinnen häufig auf andere Philosoph:innen reagieren. So reagieren Cavendish oder Conway z. B. auf Descartes und den cartesischen Mechanismus. Sie entwickeln ihre anspruchsvollen und originellen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Systeme schließlich nicht im luftleeren Raum.
Zweitens ist festzuhalten, dass die Aufnahme von Philosophinnen der Frühen Neuzeit in die Seminarpläne einer übermäßigen Konzentration auf einige wenige Themen der Metaphysik und Erkenntnistheorie entgegenwirken kann. Dies wird im besten Fall zu einem tieferen und umfassenderen Verständnis der gesamten Epoche führen (siehe hierfür Shapiro 2016), und zwar sowohl bei Studierenden als auch bei Dozierenden. Dabei sollte man allerdings der Versuchung widerstehen, die ‚klassischen‘, ‚alten‘ Themen – etwa Substanzdualismus oder Kausalität – gegen ‚neue‘, früher wenig beachtete Themen – etwa Theorien der Erziehung oder philosophische Überlegungen zur Rolle von Frauen – auszuspielen. Damit würde nicht nur ein Herunterspielen der Beiträge von Philosophinnen zu frühneuzeitlicher Metaphysik und Erkenntnistheorie drohen, sondern es würde auch den komplexen frühneuzeitlichen Debatten nicht gerecht. Die heutige Arbeitsteilung in der akademischen Philosophie, die mit einer recht großen Unabhängigkeit der Subdisziplinen einhergeht, gab es im 17. und 18. Jahrhundert so nicht. Die meisten frühneuzeitlichen Philosoph:innen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sich Überlegungen zu Themen der praktischen Philosophie nicht einfach von der metaphysischen und erkenntnistheoretischen Theoriebildung trennen lassen (besonders eindrückliche Beispiele sind Astells Überlegungen zur Erziehung von Frauen oder François Poullain de la Barres’ feministische Überlegungen zur Gleichberechtigung von Frauen – beide verbinden diese mit einem Substanzdualismus).
Drittens schließlich sollte man vermeiden, die Texte von frühneuzeitlichen Philosophinnen einfach nur an ‚klassische‘ Seminarpläne gleichsam anzuhängen (für einen ähnlichen Punkt siehe Hutton 2015). Vielmehr sollte man bei der Umgestaltung von Seminarplänen – und damit mittel- und langfristig bei der Umgestaltung des Kanons – klassische, auch die Seminarpläne strukturierende, Narrative kritisch hinterfragen (siehe insbesondere Shapiro 2016). Besonders gut illustrieren lässt sich dies am bereits angesprochenen Narrativ, dass sich in der Frühen Neuzeit zwei Strömungen, Rationalismus und Empirismus, mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen und dass sich die gesamte Epoche mithilfe dieses Schemas verstehen lässt (ich spitze hier bewusst zu). Gerade beim genauen Lesen von Texten vieler frühneuzeitlicher Philosophinnen – etwa von Cavendish, Conway oder Du Châtelet – wird schnell klar, dass sich das Rationalismus-Empirismus-Schema so kaum aufrechterhalten lässt.
Abschließend lässt sich sagen, dass auch Nicht-Expert:innen heute ohne allzu viel Zusatzaufwand einen Seminarplan zusammenstellen können, in den zahlreiche Texte von Philosophinnen der Frühen Neuzeit sinnvoll eingebettet sind. Dass nun mehrere Textsammlungen zur Philosophie der Frühen Neuzeit auf dem Markt sind, in denen zahlreiche wichtige Texte von Philosophinnen enthalten sind, und dass diese durch wertvolle Online-Ressourcen ergänzt werden, erleichtert diese Aufgabe erheblich.
Literatur
Ariew, Roger & Watkins, Eric. 2019. Modern Philosophy. An Anthology of Primary Sources. 3. Auflage. Indianapolis: Hackett.
Atherton, Margaret. 1994. Women Philosophers of the Early Modern Period. Indianapolis: Hackett.
Ebbersmeyer, Sabrina. 2020. „From a ‘memorable place’ to ‘drops in the ocean’: on the marginalization of women philosophers in German historiography of philosophy.“ British Journal for the History of Philosophy 28.3 (Special Issue Historiographies of philosophy 1800–1950, hrsg. von Leo Catana & Mogens Lærke): 442-462.
Hagengruber, Ruth. 2015. „Cutting Through the Veil of Ignorance: Rewriting the History of Philosophy.“ The Monist 98.1: 34-42.
Hutton, Sarah. 2015. „‘Blue-Eyed Philosophers Born on Wednesdays’: An Essay on Women and History of Philosophy.“ The Monist 98.1: 7-20.
Shapiro, Lisa. 2016. „Revisiting the Early Modern Philosophical Canon.“ Journal of the American Philosophical Association 2.3: 365-383.
Shapiro, Lisa & Lascano, Marcy P. 2021. Early Modern Philosophy. An Anthology. Peterborough: Broadview Press.
Zur Person
Sebastian Bender ist Juniorprofessor für Geschichte der Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Philosophie der Frühen Neuzeit. Er unterrichtet darüber hinaus auch zu Themen der antiken Philosophie, der Philosophie des Mittelalters, der klassischen deutschen Philosophie sowie zur theoretischen Philosophie.
Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.
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