Klassiker zitieren (revisited)

VON NIKO STROBACH (MÜNSTER)

Eine sehr freundliche Anfrage der Redaktion des LehrGut-Blogs hat mich daran erinnert, dass ich einmal einen kleinen Leitfaden mit dem Titel „Klassiker zitieren“ geschrieben habe. Ein Link? Herzlich gern hier und auf den Seiten der Münsteraner Schreibwerkstatt, vielen Dank! Überarbeiten? Sorry, leider keine Zeit. Denn da wäre viel zu tun. Warum? Dazu später gerne mehr. Aber zuerst: Was war die Idee des Leitfadens? Die Gebrauchsanweisung an seinem Anfang stellt sie vor:

„Zum einen soll diese kleine Handreichung vermitteln, wie man philosophische Klassiker richtig zitiert. Die Informationen dazu nehmen die meisten Seiten ein. Abschnitt 1 lohnt ein genaues Durchlesen. Die Abschnitte 2 bis 5 durchzublättern schadet nicht. Sie sind aber nicht dazu gedacht, dass man sie von vorne bis hinten intensiv liest. Vielmehr sollen sie zum Nachschlagen dienen: Wenn Sie sich mit wichtigen Autoren einer bestimmten Epoche oder mit einem ganz bestimmten prominenten Autoren beschäftigen, empfehle ich, den Abschnitt dazu nachzuschlagen. Das ist auf jeden Fall nützlich, wenn Sie aus diesem Anlass eine Hausarbeit schreiben. Im Prinzip ist beim Erstellen des Literaturverzeichnisses gegen ‚copy and paste‘ nichts einzuwenden – Sie dürfen die vorliegende Handreichung dazu verwenden, Ihr Literaturverzeichnis schnell und richtig zu erstellen. Aber Sie müssen natürlich daran denken, die Angaben eventuell an das Format, das Sie sonst im Literaturverzeichnis benutzen, anzupassen (Wo Doppelpunkte? Werktitel kursiv? Wo Punkte? Wo Kommas? Nennung des Verlags?). In der Philosophie gilt: Hauptsache einheitlich.

Zum anderen soll diese Handreichung zum Lesen von Texten aus der Philosophiegeschichte anregen. Dazu dienen die praktischen Übungen im kurzen Abschnitt 6. Man kann mit ihnen relativ viel Zeit verbringen und dabei einiges lernen. Die B.A.-Studienordnung [in Münster] ist aus gutem Grund systematisch aufgebaut, also nach Gebieten der Philosophie. Dadurch kommt jedoch die Beschäftigung mit Originaltexten aus verschiedenen Epochen etwas kurz. Aber gewisse Texte gehören zum Philosophiestudium einfach dazu. Und das nicht ohne Grund: Sie sind philosophisch spannend, anregend, ja aufregend. Steht man vor den riesigen Regalen der historischen Abteilung in der Seminarbibliothek, so weiß man natürlich nicht, wo man anfangen soll (schon mal da gewesen?). Die Idee ist: Suchen Sie im Katalog die hier empfohlene Ausgabe (schon mal gemacht?). Suchen Sie darin im richtigen Band irgendeine der in Abschnitt 6 angegebenen Stellen und lesen Sie los. So können Sie gleichzeitig das wissenschaftliche Arbeiten in der Philosophie üben und ein wenig in der Philosophiegeschichte stöbern. Bei den Ausschnitten handelt es sich fast immer um Texte, die zu Recht berühmt geworden sind. Am meisten bringt das Lesen der Texte zusammen mit anderen: Suchen Sie zusammen, lesen Sie, erzählen Sie sich gegenseitig davon.“ 

Wenn ich das heute lese, so meine ich: Der Leitfaden aus dem Jahr 2013 ist im Jahr 2024 ein historisches Dokument, so sehr hat sich der Alltag an der Uni verändert.

Klar, auch 2013 gab’s schon Internet (ich nutze es seit 1995). Aber es war noch vieles anders. Am wichtigsten im Leitfaden ist der kurze Aufgabenteil, der gerade schon genannte Abschnitt 6. Darin steckt ziemlich viel Leseerfahrung. Bei einer Überarbeitung hätte ich inzwischen neu gefundene Lieblingsstellen hinzugefügt. Was ich mir 2013 noch als ideale (Lern-)situation zum Aufgabenteil vorgestellt habe war: in die Seminarbibliothek gehen, die Bücher aus dem Regal ziehen, links und rechts davon schauen, sich vielleicht an einem Zitat festlesen – und vor allem: all dies am besten in einer kleinen Gruppe, in der man über das aktiv Aufgefundene redet. 

Gefragt, wie viele Regalmeter für neue Bücher er pro Jahr in der neuen Seminarbibliothek brauche, sagte unser kluger Bibliothekar nur einige Jahre später: „Wieso Regalmeter? Wir sind mitten im Medienwechsel.“ Und dann auch noch Corona. 

Ich wundere mich immer noch, wie selten ich jetzt in die Bibliothek gehe. Ganze Vorträge und Fachartikel schreibe ich, ohne Bände bedruckten Papiers in die Hand zu nehmen. Wozu den Staub von den Bänden der Akademie-Ausgabe der Werke Kants pusten? Es gibt doch: http://kant.korpora.org/

Und zum Glück gibt’s inzwischen auch den ganzen Nietzsche in der Ausgabe von Colli und Montinari unter: http://www.nietzschesource.org/ 

Einen global durchsuchbaren, gut edierten Schopenhauer kenne ich leider noch nicht – vielleicht habe ich ihn übersehen. 

Auf https://archive.org/ weise ich schon im Leitfaden hin. Die Seite ist für mich noch wichtiger geworden. Auch die Ausleihfunktion für eine Stunde ist ziemlich praktisch. Im Prinzip lassen sich die Aufgaben aus dem Leitfaden heute auch ohne Bibliothek mit dem Bildschirm vor Augen machen – aber vielleicht am besten nach wie vor nicht einsam und allein.

Dem guten Zitieren kann es durchaus nützen, dass man die Klassikerausgaben, die in der Bibliothek stehen, inzwischen leicht auf der Festplatte immer und überall zur Verfügung haben kann. Etwas Mühe geben sollte man sich allerdings schon dafür und nicht irgendwas irgendwoher downloaden (oder zumindest einen seriösen Abgleich machen). 

Insgesamt scheint mir der Zitierstandard eher gestiegen zu sein: Man kann mit elektronischen Ressourcen zur Hand einfacher und schneller gut belegen als früher. Auf Wikipedia gibt es, durch die teils rabiate gegenseitige soziale Kontrolle der Autorinnen, ein ziemlich gutes Bewusstsein davon, dass man überhaupt Informationen und Zitate belegen sollte – auch wenn noch immer viel zu oft inhaltlich gute Artikel anonyme Raubkopien wissenschaftlicher Literatur sind. Der Trend zum Verlinken aller Zitate in Fachtexten, die heute immer auch oder nur noch online erscheinen, diszipliniert wissenschaftliche Autoren.

Manchmal muss man Kompromisse machen. Dem höflichen und aufmerksamen copy editor der englischsprachigen Fachzeitschrift im fernen Bangalore würde ich vergeblich versuchen zu erklären, dass „Aristotle (2009), p. 132“ eine schlechte Quellenangabe ist. Er/sie muss dem style sheet des Verlagskonzerns gehorchen, deren kostengünstige Arbeitskraft sie/er ist. Und so gehorche ich auch. 

Das wissenschaftliche Editionsprojekt, das mir gerade wenig Zeit lässt, ist übrigens eine Online-Ausgabe – was sonst?


Zur Person

Niko Strobach ist Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Logik und Sprachphilosophie am Philosophischen Seminar der Universität Münster.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.


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